: „Straßburg muss mehr Rücksicht nehmen“, sagt Renate Jaeger
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und das Bundesverfassungsgericht konkurrieren beim Schutz der Grundrechte. Der EGMR soll nicht zu viel machen – aber Karlsruhe hat den EGMR auch gestärkt
taz: Frau Jaeger, noch sind Sie Richterin am Karlsruher Bundesverfassungsgericht. Am 1. November wechseln Sie an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nach Straßburg. Rechnen Sie mit einem feindseligen Empfang?
Renate Jaeger: Nein, warum?
Letzte Woche hat Karlsruhe erklärt, dass Urteile des Straßburger Gerichtshofs in Deutschland nicht generell zu befolgen, sondern nur zu „berücksichtigen“ sind. Aus Straßburg kam sofort eine Replik: Natürlich seien die Straßburger Urteile verbindlich. Wann wird es zur offenen Fehde kommen?
Es wird keinen Streit geben. Der Karlsruher Beschluss ist der Beginn eines guten Dialogs.
Und was ist die Karlsruher Botschaft dabei?
Ein internationales Gericht wie der Straßburger Gerichtshof muss aufpassen, dass er auf nationale Eigenheiten Rücksicht nimmt. Wenn er kulturelle und grundrechtliche Besonderheiten vernachlässigt, wird er Akzeptanzprobleme bekommen.
Nimmt Straßburg also zu wenig Rücksicht?
Der Straßburger Gerichtshof hat schon oft kluge Zurückhaltung geübt. So hat er etwa Frankreich einen Einschätzungsspielraum zugebilligt, ob es weiterhin anonnyme Geburten erlauben will – auch wenn das für die so geborenen Kinder hart sein kann. Gerade in solch heiklen ethischen Fragen darf der EGMR nicht zu forsch sein, weil Europa erst zusammenwachsen muss.
Im konkreten Streit zwischen Karlsruhe und Straßburg ging es um die Rechte von nichtehelichen Vätern …
Auch hier ist Europa noch weit von einheitlichen Überzeugungen entfernt. Gerade die Rechte der nichtehelichen Kinder unterschieden sich bis vor kurzem sehr stark.
Ist es nicht gefährlich, wenn Sie in Menschenrechtsfragen für die Beachtung nationaler Eigenheiten plädieren? Da könnte die Türkei ja auch sagen, Folter auf Polizeiwachen sei dort eben noch kulturell verankert.
Diese Gefahr sehe ich nicht. Denn bei der Folter geht es um das Verhältnis von Bürger und Staat. Hier gilt das Prinzip der Meistbegünstigung. Das heißt: Ist der Bürger durch nationale Grundrechte besser geschützt, kommen diese zum Einsatz. Gibt die Europäische Menschenrechtskonvention mehr Schutz, ist sie der Maßstab.
Was ist bei den nichtehelichen Vätern anders?
Wir haben hier ein mehrpoliges Verhältnis unter Privatpersonen. Hier sind die Rechte des Vaters gegen die der Mutter und des Kindes abzuwägen. Eventuell sind auch noch Pflege- oder Adoptiveltern zu berücksichtigen. Für wen soll da die Meistbegünstigung gelten? Es geht hier um diffizile Abwägungen, in die sich Straßburg nur einschalten sollte, wenn national etwas völlig aus dem Ruder läuft.
Gilt das auch für den anderen Streitpunkt mit Straßburg, die Zulässigkeit von Promifotos? Straßburg will Promis stärker schützen als Karlsruhe.
Ja. Auch dabei geht es um die Abwägung zwischen privaten Grundrechtsträgern. Hier die Presse, die berichten will – dort die Prominenten, die Persönlichkeitsschutz einfordern. Da könnte der EGMR durchaus auf die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts vertrauen.
Würden Sie daraus eine allgemeine Regel machen?
Natürlich. Der EGMR ist stark überlastet, da liegt es doch nahe, dass er sich auf Staaten konzentriert, in denen die interne Kontrolle weniger gut ausgestaltet ist, weil es kein Verfassungsgericht gibt.
Ist die Karlsruher Entscheidung also vor allem als Signal an Straßburg zu verstehen?
Nein, das hat die Presse etwas einseitig interpretiert. Das Bundesverfassungsgericht wollte dem Straßburger Gerichtshof auch zur Seite stehen und die nationalen Gerichte zur Beachtung der EGMR-Rechtsprechung anhalten.
Das war doch selbstverständlich …
Es geht nicht nur um die Urteile, die im konkreten Fall ergangen sind. Die deutschen Gerichte sollen sich generell an den Grundgedanken der Straßburger Rechtsprechung orientieren, so wie sie es heute schon mit der Rechtsprechung der höchsten deutschen Gerichte tun.
Wird Karlsruhe dabei als Vorbild vorangehen?
Ich bin mir sicher, dass künftig bei jeder Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geprüft wird, ob es selbst und die Fachgerichte die Straßburger Rechtsprechung beachtet haben – um nach Möglichkeit Konflikte von vornherein zu vermeiden.
Hat der Karlsruher Beschluss von letzter Woche den EGMR eher gestärkt oder geschwächt?
Unter dem Strich ist Straßburg gestärkt worden.
Sagen Sie das als deutsche Verfassungsrichterin oder als zukünftige EGMR-Richterin?
Noch bin ich Richterin am Bundesverfassungsgericht.
INTERVIEW: CHRISTIAN RATH