Fehlgutachten kann fahrlässige Tötung sein

Bundesgerichtshof hebt Freispruch für zwei Ärzte auf, die den Ausgang eines späteren Mörders befürwortet hatten

FREIBURG taz ■ Auch Gutachten können töten. Der in Leipzig ansässige fünfte Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat gestern den Freispruch für zwei Ärzte aufgehoben, die – mit tödlichen Folgen – den Ausgang eines gefährlichen Straftäters befürwortet hatten. Das Landgericht Potsdam hatte die Verantwortung der Ärzte verneint, weil der Mann aus der baufälligen Klinik auch leicht hätte fliehen können.

Im Oktober 1998 setzte sich der damals 35-jährige Raymond S. aus der psychiatrischen Landesklinik Brandenburg ab und tauchte in Berlin unter. Anschließend beging er 15 Überfälle, vor allem auf ältere Frauen. Einige der Frauen vergewaltigte er, zwei ermordete er sogar. Dafür erhielt S. inzwischen eine lebenslange Haftstrafe mit Sicherungsverwahrung.

Vor Gericht standen nun aber der Chefarzt Tilo L. und der Oberarzt Jürgen S. Sie hatten Raymond S. damals Ausgang gewährt, obwohl dieser als gefährlich galt und mehrfach aus der Klinik und anderen Einrichtungen geflüchtet war. Nur von seiner Freundin begleitet ließen sie ihn im Park spazieren gehen. In der ersten Instanz hatte das Landgericht Potsdam zwar erklärt, dass das Verhalten der Ärzte „verantwortungslos“ gewesen sei. Dennoch sprach es diese vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Die Klinik sei so baufällig gewesen, dass ein fluchtwilliger Insasse wie S. ohnehin bald verschwunden wäre. Deshalb seien den Medizinern die späteren Morde nicht zuzurechnen gewesen.

Der Bundesgerichthof hob diesen Freispruch nun auf. Selbst wenn S. bei einer Flucht durch die 90 Jahre alten Fenstergitter die gleichen Straftaten begangen hätte, entfalle deshalb nicht die Verantwortung der Ärzte. Ein derart hypothetischer Verlauf könne die Angeklagten nicht entlasten, betonte der BGH. Das Verfahren muss nun vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts Potsdam neu aufgerollt werden. War schon der Prozess in Potsdam ein Signal an Ärzte in der Psychiatrie, so gilt dies nach dem gestrigen Urteil erst Recht. Während es das Landgericht mit seinem Freispruch bei einem Warnschuss belassen wollte, hält der BGH nun auch eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung für möglich.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Ärzte die Vorgaben des Gesetzes eindeutig missachteten. Nur wenn die Fehlerhaftigkeit einer Prognose von vornherein eindeutig war, kommt eine Verurteilung in Betracht. Es genügt also nicht, dass sich die Vollzugslockerung erst später als Fehler herausstellt, weil der Häftling dabei ein neues Verbrechen begeht. Vollzugslockerungen sind gesetzlich vorgesehen, um Inhaftierte auf eine spätere Entlassung vorzubereiten. CHRISTIAN RATH

Az. 5 StR 327/02