: Bei Hunger keine Wahl
aus Belgrad ANDREJ IVANJI
Schon lange ist eine Wahlkampagne in Serbien nicht so still verlaufen. Am Sonntag soll der Präsident gewählt werden, und ausnahmsweise spricht niemand von „historischen“ Wahlen, die das „Schicksal“ der Nation bestimmen sollen. Hier und da lächelt auf einem Plakat ein Kandidat, ab und zu unterbricht eine Wahlwerbung einen TV-Film. Das ist schon fast alles.
Sechs Präsidentenkandidaten stehen zur Wahl, Siegesaussichten haben nur zwei: der linksliberale Parlamentspräsident der Staatengemeinschaft Serbien und Montenegro, Dragoljub Micunović von der regierenden Koalition DOS, und Tomislav Nikolićc, Kandidat der extrem nationalistischen Radikalen Partei.
Die Präsidentschaftswahlen werden von der Parlaments- und Regierungskrise überschattet. Für den 28. Dezember kündigte Micunović am Donnerstag überraschend vorgezogene Parlamentswahlen an. Die Regierung wurde nach endlosen Debatten gezwungen, den Verlust der Parlamentsmehrheit zur Kenntnis zu nehmen.
Vor allem aber beeinflussen die allgemeine soziale Not, Streiks und Arbeiterproteste die Stimmung in Serbien.
„Runter mit der korrumpierten Regierung!“, schrien einige tausend Arbeiter vor dem serbischen Parlament im Zentrum Belgrads, während vergangene Woche im Parlament eine Marathondebatte über den Misstrauensantrag gegen die Regierung gestellt wurde. „Die Mafia wird immer reicher und das Volk immer ärmer“, stand auf einem Transparent. Zum Protest hatte der „Bund unabhängiger Gewerkschaften“ aufgerufen.
„Verdammt, ich kann kaum noch meine Kinder ernähern“, sagt der vierzigjährige Dejan, ein arbeitsloser Textilarbeiter. Er sei nicht nach Belgrad gekommen, um eine politische Partei zu unterstützen, sondern weil er sich seit „vier Jahren keine neuen Schuhe leisten“ könne. Diese „neuen“ Politiker seien auch nicht besser, als die „alten“. Um Arbeiter kümmere sich niemand. Dejan kann sich nicht länger anhören, wie Politiker in „Tausend-Dollar-Markenanzügen“ erklären, dass „wir alle uns gedulden und die Kosten des Umbaus gemeinsam tragen müssen“.
In Serbien tickt eine soziale Bombe. Die Erwartungen nach der Wende vor drei Jahren, nach Kriegen und internationaler Isolation, waren groß. Die Ernüchterung ist bitter. Im Sommer haben Dutzende Unternehmen gestreikt und internationale Straßen tagelang blockiert. Vertreter der Regierung rasten von einer Demonstration der Bergarbeiter zu einem Protest von unzufriedenen Bauern. Sie verhinderten gerade noch einen Generalstreik im Schulwesen, müssen sich aber mit einem Streik der Ärzte auseinander setzen. „Versteht doch, wir haben einfach kein Geld, wir können Gehälter nicht erhöhen“, schrie Finanzminister Bozidar Djelić entrüstet auf und stieß auf wenig Verständnis. In Serbien ist die Mittelschicht zerstört worden, die Masse von Menschen, die an oder unter der Grenze der Armut lebt, verlieren immer mehr die Geduld.
„Ich pfeife auf die Präsidentschaftswahlen“, sagt der arbeitslose Kunsthistoriker Srdjan Milić. Demonstriert habe er jahrelang gegen das Regime von Slobodan Milošević, von der Polizei sei er verprügelt worden. Arbeitsstellen, einen höheren Lebensstandard hätten die heute regierenden Politiker versprochen. Und er sei vierzig Jahre alt und nach wie vor arbeitslos und „arm wie eine Kirchenmaus“, er werde diese Präsidentschaftswahlen „ignorieren“.
50 Prozent Wahlbeteiligung sind vorgeschrieben, damit die Präsidentschaftswahl gültig ist. Laut Meinungsumfragen könnten diese zum dritten Mal in Folge an zu geringer Wahlbeteiligung scheitern. Die zwei größten Oppositionsparteien, „Demokratische Partei Serbiens“ und „G 17“ haben zum Wahlboykott aufgerufen.
Und die Bevölkerung verspricht sich von den Präsidentschaftswahlen nichts, was zu einer Verbesserung der Wirtschaftslage führen könnte. Das Wachstum betrug vor drei Jahren noch 5,6 Prozent, dieses Jahr nur 1 Prozent. Die Erträge bei Weizen, Mais oder Zuckerrüben sind auf das Niveau von 1960 gesunken. Von den einstigen 4 Tonnen pro Hektar seien die Weizenerträge auf 2,2 Tonnen, der Maisertrag von 5 auf heuer 3,3 Tonnen gesunken. Man spricht von einer drohenden „Hungersnot“.
Die Nachricht, dass der Brotpreis um ganze 20 Prozent steigen soll, löste richtige Panik unter der verarmten Bevölkerung aus. Die Regierung versprach, dass Brot nicht teurer wird. „Aber nur bis die Wahlen vorbei sind“, erzählt man in einer Bäckerei lächelnd.
Auf der anderen Seite sieht die Hauptstadt Belgrad immer mehr wie eine europäische Metropole aus. Fassaden werden gestrichen, Straßen umgebaut. Bunte, glitzernde Reklamen schmücken die City, Mercedes bietet ein günstiges Leasing an. Parfümerien und Modegeschäfte in der Fußgängerzone Knez Mihajlova sind ebenso luxuriös ausgestattet wie Geschäfte auf der Kärtnerstraße. Dementsprechend fürstlich sind auch die Preise. Für einen Facharzt, der an die 18.000 Dinar (rund 270 Euro) verdient, ist das exquisite Angebot sicher nicht bestimmt.