: Selbstbespiegelung hält gesund
Selten spricht man darüber, was eigentlich Gesundheit ist: Gibt es überhaupt ein Leben jenseits von Krankheit? Eine Annäherung in vier Schritten
von ULRIKE WINKELMANN
Bewusstsein. Gesund ist, wer noch nicht ausreichend untersucht wurde. Gesund ist, wer gar nicht darüber nachdenkt. Gesund ist, wer am Leben seiner Umwelt, seines Umfelds, ohne biologische, psychische oder soziale Einschränkung teilhat. Nicht dass es an unterschiedlichen Definitionen fehlen würde, was unter Gesundheit zu verstehen ist. Ihnen allein gemein ist eines: Gesundheit ist eine Unbewusstheit, eine Selbstverständlichkeit, ein Zustand, der sich nicht selbst kennt, aber an seinen Auswirkungen zu erkennen ist.
Jemand, dessen Körper ihm keinen Stress bereitet, scheint ungehemmt seinem Willen folgen zu können. Das spielende Kind ist dafür das Vorbild – neidisch gucken Erwachsene zu, wie Kinder ihren Körper ohne jede erzwungene Rücksicht nutzen, ausprobieren – weil er frisch ist und reibungslos funktioniert. Umgekehrt sind das Entsetzen und das Erbarmen mit dem unheilbar kranken Kind umso größer. Denn nicht nur kann es sein Leid nicht verstehen, sein Anblick zerstört auch das Ideal: die Wunschvorstellung von unbewusster Gesundheit.
Für Erwachsene existiert dieser Zustand praktisch nicht, jedenfalls nicht in den reichen Ländern. Hier gehört zum Erwachsenwerden unweigerlich auch ein Körperbewusstsein, das umspült wird von gesellschaftlichen und kulturellen Warnungen vor Krankheit und Abnormalität. Kein Teenager kann sich dem entziehen, selbst jene nicht, die nicht als unkontrolliert quellender Aknekloß die Pubertät durchleiden müssen, sondern mit wohlproportioniert wachsenden Gliedmaßen und glatter Haut gesegnet sind.
Wer erwächst, wird vor allem aber körperlich befangen und damit anfällig, erstens für die x-tausend Werbebotschaften der Gesundheitsvermarkter. Aber es sind, zweitens, auch Schule und Clique, Familie und Jugendkultur, die dem Teenager im sich verändernden Körper bescheinigen, er müsse auf sich aufpassen, es könne etwas schief sitzen. Er habe bereits jetzt die Knie eines Fünfzigjährigen, einen unrettbar verbogenen Rücken, werde vermutlich also mit dreißig an den Rollstuhl gefesselt und übrigens auch ertaubt sein, wenn er Musik so laut höre, habe Unebenheiten – Tumoren am Po, gibt’s das?! Wie sieht Hautkrebs aus? – an Stellen, die erst mit vierzig unangenehm auffallen sollten. Und mit jedem Jahr mehr wird aus einem eigentlich gesunden Menschen ein möglicherweise kranker Mensch.
Die Gesundheit als selbstverständliches Funktionieren ist demnach ein typischer Fall von „überzeugender Definition – leider nicht anwendbar“, ähnlich jenem vom Paradies als bester Staatsform. Es gälte also, mit der Vorstellung von Gesundheit als nicht bewusstem Körperglück im Hinterkopf an einem Begriff von Gesundheit zu arbeiten, der einsetzbar ist in einer Gesellschaft, die hinter ihr Gesundheitsbewusstsein nicht zurückkann.
Religion. Der Begriff Gesundheitsbewusstsein ist dabei vielgestaltiger, als es seine vom Alltagsgebrauch abgewetzte Hülle vermuten lässt. Zum Beispiel setzt er der gegenwärtig sehr geläufigen Rede von der Gesundheit als neuer Religion entgegen, dass ein Bewusstsein immer auch die Aufklärung über sich selbst durchläuft, also nicht nur etwas Schlechtes sein kann.
Wobei der Ansatz, Gesundheit zur Religion, Gesundheitsverhalten zum religiösen Ritual, Ärzte zu Priestern und den gesunden Körper zur Gottheit zu erklären, ja etwas für sich hat. Meist sind es die Priester, sprich Ärzte selbst, die entnervt darauf hinweisen, dass der Kult, von dem sie selbst profitieren, wenig Rationales an sich hat, jedenfalls was den ursprünglichen Job, das Heilen, angeht. (Abgesehen davon ist Gesundheitskult natürlich so rational wie jeder Kult: Er schafft Orientierung.)
Einer dieser erzürnten Ärzte, Manfred Lütz, gibt (in seinem Buch „Lebenslust. Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult“) zu bedenken: „Gesundheit ist ein hohes Gut, aber nicht das höchste.“ Heftig plädiert er für die gewiss tröstliche Einsicht, dass Leiden und Unvollkommenheit zum Menschsein gehören – eine Haltung, die er mit vielen Medizinethikern und Philosophen teilt.
Wie so viele Mediziner jedoch vollzieht Lütz einen moralisierenden Schwenk, wenn er auf die aktuelle Gesundheitspolitik zu sprechen kommt. Die Crux des Gesundheitssystems sei, meint er, das Anspruchsdenken der Menschen, die auch noch vom letzten vielleicht auch nur eingebildeten Pickelchen geheilt zu werden begehren oder gar meinen, dass Zahnersatz aus hochwertigen Materialien von der Allgemeinheit, der Gemeinschaft der Gesundheitsreligiösen, zu bezahlen sei.
Das Anspruchsdenken, um Lütz fortzuführen, entspringt demnach der religiösen Überzeugung, dass eine Gesellschaft, die Gesundheit als höchsten gemeinsamen Wert kennt, natürlich gerne bereit sei, alles dort hineinzuinvestieren. So gesehen wäre die Gesundheitsreligion nicht wie andere Religionen Grundlage einer Kultur von Bescheidenheit und Beschränkung, sondern einer Kultur des Forderns und der Selbstvervollkommnung.
Für einen Arzt sind dies einerseits nachvollziehbare Gedanken, da Ärzte nicht nur einen gewissen Überblick über die Gemütslage ihrer Patienten, sondern auch einen besseren Überblick als die meisten darüber haben, welche Dimensionen von Krankheitsqualen es gibt und wo das Geld der Gesellschaft vermutlich besser untergebracht wäre als im güldenen Zahnersatz oder in der Lasertherapie gegen Blutschwämmchen. Soll man doch die Leute für den Firlefanz selbst zahlen lassen, wenn dann genug Geld für die wirklich wichtigen Sachen bleibt – dies ist eine in der Ärzteschaft weit verbreitete Ansicht.
Andererseits gerinnt in einer solchen Sichtweise das lebendige, um sich selbst sich sorgende Bewusstsein zu einer kindischen und verantwortungslosen Haltung: Versorge mich. Das Gesundheitbewusstsein freilich kann und will ja eigentlich mehr. Der gesundheitsbewusste Mensch denkt schließlich von sich selbst, er mache das Richtige, gehe lieber einmal zu viel als zu wenig zum Arzt, um Langzeitschäden zu vermeiden. Er besucht abwechselnd Schulmediziner und Heilpraktiker, um keine Dimension baldmöglicher Heilung auszuschließen, und er glaubt wirklich, dass die Nährstoffpillen aus dem Reformhaus oder die Bachblütentropfen seinen Stoffwechsel in Schwung gebracht haben – und die hat er immerhin selbst bezahlt.
Krankheitshändler. Natürlich lässt sich dieses Bewusstsein, wenn schon nicht als Religion, so doch als Scheinaufklärung bezeichnen. Hierzu haben Max Horkheimer und Theoder W. Adorno eigentlich alles gesagt – wenn auch in einem anderen Zusammenhang. In der Gesundheitsindustrie, so ließe sich ein Stück der „Dialektik der Aufklärung“ übertragen, kann es kein Gesundheitsbewusstsein geben, das nicht wieder einem neuen Mythos aufsäße.
Es ist daher so verdienstvoll wie notwendig, die Kritik an der Gesundheitsindustrie fortzuschreiben, wie sie vom Universalgelehrten Ivan Illich schon 1975 ausgeführt wurde (in seiner Schrift „Die Nemesis der Medizin“). Die Abwehr des, wie er meinte, pathogenen Medizinsystems, das dem Einzelnen die Autonomie raubt, hat Illich in aller Konsequenz, nämlich bis bis zu seinem Tode im Dezember 2002, vertreten: indem er seinen Krebstumor nicht behandeln ließ – aber natürlich Drogen gegen die Schmerzen nahm.
In seiner Tradition steht eine wachsende Zahl von medizinkritischen Publikationen, aktuell etwa von Medizinjournalisten wie Werner Bartens (sein Buch „Was hab ich bloß? Die besten Krankheiten der Welt“) oder Jörg Blech („Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden“). Beide kritisieren Ärzteschaft und Pharmaindustrie, aber auch das hypochondrische Volk dafür, auf Kosten der wirklich Kranken und Hilfsbedürftigen Leiden herbeizufantasieren.
Und sie üben diese Kritik zu Recht: Die Mühen der Pharmaindustrie, die gesamte Bevölkerung der Industrieländer zu Patienten und so abhängig von ihren Produkten zu machen, gehören mit Sicherheit zu den wirklichen Skandalen der Wohlstandsgesellschaften. Jüngstes Beispiel: Die Hälfte der Frauen über 45 nimmt hierzulande gegenwärtig Hormonpillen gegen Wechseljahrsbeschwerden, obwohl diese Mittel erwiesenermaßen nichts nützen und obendrein Brustkrebs verursachen.
Doch trotz mittlerweile großer Verbreitung und weltweiter Anerkennung der Forschungsergebnisse verschreiben die Frauenärzte noch weiter – erstens weil sie es seit Jahrzehnten tun, zweitens weil die regelmäßige Verschreibung ihnen ein Gros der Patientinnenschaft sichert, drittens weil die Pharmaindustrie mit gigantischem Aufwand Fehlinformationen streut, um ihren milliardenschweren Absatz von Hormonpräparaten zu sichern. Viertens aber, weil die Frauen tatsächlich glauben, dadurch länger jung zu bleiben – und weil sie finden, sie hätten in einer Jugendwahngesellschaft ein Recht darauf, dass ihnen gegen das Altwerden geholfen wird.
Alternde Frauen sind ohnehin die leichteste Beute der Gesundheitsindustrie. Die Sorge um die Gesundheit verwebt sich bei ihnen unauflöslich mit der Sorge um die Schönheit. Aber was heißt schon Schönheit? Es gilt, trotz natürlichen körperlichen Verfalls Lebendigkeit, sprich Gesundheit, sprich Zukunft zu verströmen. Nicht jeder Frau allerdings gelingt es, diese Aura aus sich selbst heraus zu gewinnen. Insbesondere deshalb lässt sich jeder Mist als Jungbrunnen verkaufen.
Alte Frauen schließlich, verrentet, meist verwitwet, oft allein gelassen von der Familie, sind es, die mehrheitlich die Praxen bevölkern. Ihre Arztbesuche dienen längst nicht mehr der Heilung akuter Krankheiten, sondern stiften Rhythmus im eintönigen Dasein, sozialen Kontakt und eine Gefühl von Wichtigkeit. Nur ein Arzt kann das Gemüt beruhigen, das vom Wissen um die eigene – und wachsende – Verwundbarkeit aufgestört ist. Die Kirche kann das nicht mehr – das biologische Altern bringt uns halt vor allem dem Tod näher und nur vielleicht dem Himmelreich.
Krankheit. Und doch wäre es falsch, davon auszugehen, dass das deutsche Gesundheitssystem – letzter wachsender Wirtschaftssektor, höchste Ärztedichte der Welt, über vier Millionen Beschäftigte, 250 Milliarden Euro Umsatz im Jahr – sich davon nährt, dass die Menschen offenbar nichts mit sich anzufangen wissen, als krank zu werden.
Die Menschen sind krank, daran ist nicht zu deuteln. Einschlägige Studien der Neunzigerjahre am Volkskörper zeigen, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt vier Fünftel der Bevölkerung schwer krank sind – und das, obwohl die Arbeit den Körper nicht mehr so verschleißt. Wirklich! Die Leute haben entweder schon etwas oder sie steuern darauf zu – Diabetes, Arterienverkalkung, Fett- und Alkoholleber, Gicht und Rheuma, lebensgefährlichen Bluthochdruck und so weiter und so fort. Natürlich haben sie das, weil sie rauchen, saufen, schlecht essen und auch sonst das Falsche tun. Aber das ändert ja nichts daran: Es sind allesamt keine eingeredeten Leiden, sondern Krankheiten, die das Leben verkürzen und erschweren.
Und sie müssen auf medizinisch höchstem Niveau behandelt werden – was nicht unbedingt heißen muss: auf kostspieligstem Niveau. Gegenwärtig werden im weltweit drittteuersten Gesundheitssystem Depressive mit Schlafmitteln nach Haus geschickt, Diabetikern müssen Füße amputiert werden, weil viele Ärzte wenig von Blutzirkulation wissen, Fettleibige kriegen Gelenkspritzen statt Diätkontrollen. Aber geröntgt wird fleißig.
Die Menschen sind krank, es ist gut, dass sie sich dessen bewusst sind, und zu erforschen wäre, woher das kommt und ob das Krankschreiben der einzige Ausweg ist. Denn wo die Männer zu saufen beginnen, werden die Frauen depressiv. Den vielen alkoholbedingten Ausfällen auf männlicher Seite entspricht eine rasant wachsende Rate von depressionsbedingten Ausfällen bei Frauen.
Funktionsfähigkeit. Nun berichten Psychiater und Psychologen, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, sich mit jeder Generation vergrößert – übrigens weltweit. Die Krankenkassen erkennen, dass Depressionen inzwischen zweithäufigster Grund für Arbeitsausfälle sind – nach den Rückenleiden. Die Weltgesundheitsbehörde fand heraus, dass Depression in ein paar Jahren zur weltweit teuersten Krankheit werden wird.
Die Frage, warum immer mehr Beschäftigte sich psychisch krank melden, führt dicht an die Frage heran, was Gesundheit in der modernen Gesellschaft ausmachen könnte. Denn niemand gerät zufällig in die Praxis eines Psychiaters oder eines Psychologen.
Für Antidepressiva wird auch nicht so unverhüllt geworben wie für Herzkreislaufmittel. In seelische Störungen, in Depressionen wird man nicht hineingequatscht. Wer sich wegen eines Seelenleidens krankmeldet, ist so selbstbewusst, zu sagen: Mir geht es so schlecht, dass ich nicht arbeiten kann, auch wenn man mir äußerlich nichts anzusehen scheint. In dieser Haltung steckt zumindest die Reflexion, dass ein Stigma – entweder als „verrückt“ oder „schwächlich“ zu gelten – in Kauf genommen wird, um das Recht auf Rückzug vom Job durchzusetzen und es sich anderswo besser gehen zu lassen. Wer wollte das einer Arbeitnehmerin, einem Arbeitnehmer verwehren?
Vielleicht könnte man Gesundheit als einen Prozess begreifen, in dem sich der Mensch – trotz der Zumutungen der Gesundheitsindustrie – selbst entscheidet, wann er funktionsfähig (im umfassenden Sinne: also auch sozial funktionsfähig) ist und wann nicht. Dazu braucht er Ärzte, die ihm getreue Auskunft geben können über das, was er hat und was dagegen getan werden kann.
Arzt und Patient müssen gemeinsam erkennen, welche Probleme die Medizin löst und welche nicht. Es hat schließlich einen Grund, dass Ärzte ihre eigenen Angehörigen nie zum Arzt schicken – nicht etwa, weil sie selbst immer helfen könnten, sondern weil sie wissen, wie wenig ihre Kollegen tun können.
Ein aufgeklärter Mensch würde so lernen, zwischen schwindender Schönheit, schwankenden Launen, Alterungsprozessen und medizinisch behandlungswürdiger Krankheit zu unterscheiden. Er würde lernen, dass Krankheit der Normalfall ist, Gesundheit eine eher utopische Größe – und dass er (oder sie) großenteils selbst für seinen (oder ihren) Körper zuständig ist. Für all das braucht’s freilich – Gesundheitsbewusstsein. Ohne Selbstbespiegelung geht es nicht.
ULRIKE WINKELMANN, Jahrgang 1971, Gesundheitsredakteurin der taz, sagt: „Meistens finde ich mich gesund“