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Archiv-Artikel

Warum starb Ian?

Mehrere Zeugen und ein Video belasten die britische Polizei. Die Vorwürfe: Übergriffe und unterlassene Hilfe

Ian Tomlinson war kein Demonstrant. Er geriet auf dem Heimweg von der Arbeit in die Proteste Mehrere Augenzeugen berichten, dass Polizisten grundlos Demonstranten und Schaulustige angriffen

VON RALF SOTSCHECK

So natürlich, wie die englische Polizei es dargestellt hat, war der Tod von Ian Tomlinson nicht. Der 47-jährige Zeitungsverkäufer, der auf dem Heimweg von der Arbeit in die Proteste gegen den G-20-Gipfel geriet, starb an einem Herzinfarkt. Das hat die Obduktion ergeben. Doch zuvor war er von der Polizei angegriffen worden. Das ist deutlich auf einer Videoaufnahme zu sehen, die der britischen Tageszeitung Guardian zugespielt wurde.

Auf dem Video sieht man, wie Tomlinson um 19.20 Uhr in der Royal Exchange Passage in der Nähe der Bank von England langsam vor einer Reihe von Polizisten mit Hunden herläuft. Die Hände hat er in den Taschen. Plötzlich und offensichtlich grundlos schlägt ihm ein vermummter Beamter in Kampfmontur von hinten mit dem Schlagstock in die Beine und stößt ihn dann zu Boden. Im Fallen zieht Tomlinson die Hände aus den Taschen, um den Sturz abzufedern. Er fällt auf den Bauch, dreht sich um und scheint sich, auf dem Boden sitzend, bei den Polizisten zu beschweren. Ein Demonstrant hilft ihm auf die Beine, und Tomlinson geht langsam weiter.

Eine Augenzeugin berichtete dem Guardian, dass dies bereits der zweite Angriff auf Tomlinson gewesen sei. Die Fotografin Anna Branthwaite erzählt, Tomlinson sei kurz zuvor von einem Polizisten zu Boden gestoßen worden und sei mit dem Kopf auf das Pflaster aufschlagen. Als er auf dem Boden lag, habe ihm der Beamte zwei Hiebe mit einem Schlagstock versetzt. „Es war ein tätlicher Angriff“, sagt Branthwaite. „Danach zog ihn der Beamte von hinten hoch, lief weiter hinter ihm her und stieß ihn. Tomlinson lief und stolperte. Er drehte sich nicht um und provozierte die Beamten nicht.“ Nachdem er das zweite Mal zu Boden gestoßen wurde, sei er benommen und verwirrt gewesen, sagen andere Augenzeugen.

Auf dem Video sieht man zum Schluss, wie Tomlinson quer durch das Bild in Richtung Bank of England läuft. Drei Minuten später brach er rund 50 Meter weiter zusammen. Vier Studenten beobachteten das: „Er stolperte auf uns zu und brach zusammen“, sagt Peter Apps, einer der Studenten. „Eine Frau leistete Erste Hilfe. Der Mann war in den Vierzigern, hatte Tätowierungen und trug ein Hemd des FC Millwall.“

Ein Demonstrant, fährt der Zeuge fort, habe mit einem Megafon die Polizei herbeigerufen, während ein anderer Demonstrant die Notrufzentrale angerufen habe, von der er medizinische Anweisungen erhielt. „Vier Polizisten und zwei Polizeisanitäter kamen“, sagt Apps. „Sie sagten zu der Frau, die Erste Hilfe leistete, sie solle weitergehen.“ Dann hätten sie die Frau gewaltsam von Tomlinson weggestoßen und sich nicht dafür interessiert, was sie über den Zustand des Mannes zu berichten hatte.

Diese Frau, die anonym bleiben möchte, sagt, dass die Polizei Tomlinson umringt habe. „Die Notrufzentrale wollte mit den Polizisten sprechen, man hielt ihnen das Handy hin, doch sie lehnten es ab.“ Die Polizisten haben keine Wiederbelebungsversuche unternommen, sagt Elias Stoakes, ein anderer Zeuge. Stattdessen hätten die Beamten andere Leute weggeschubst, die Tomlinson helfen wollten.

Die Polizisten sagten später aus, dass sie von den Demonstranten mit Wurfgeschossen angegriffen worden seien, als sie Tomlinson helfen wollten. Sämtliche Augenzeugen bestreiten das. Lediglich eine Flasche sei geworfen worden, doch sie landete zehn Meter neben der Szene und zerschellte hoch oben an einer Wand, sagt Apps. Andere Demonstranten riefen, dass dort ein Verletzter liege, und danach sei nichts mehr geworfen worden. „Als der Krankenwagen eintraf, wurde ihm der Weg von den Demonstranten sofort frei gemacht“, sagt die Studentin Natalie Langford. Neben der Videoaufnahme liegen dem Guardian eine Reihe von Zeugenaussagen vor, wonach die Polizei äußerst aggressiv vorgegangen sei und Hunde auf Demonstranten und Schaulustige gehetzt habe. „Ich habe dieses Maß an Gewalt nicht erwartet“, sagt der 40-jährige Dr. Justin Meggitt, Dozent in Religionswissenschaften an der Universität Cambridge. „Ungefähr um zehn nach sieben biss ein Polizeihund zunächst den Hundeführer und dann einen anderen Mann. Der zeigte seine Verletzungen, es waren klaffende Wunden am Oberarm.“ Zwei Minuten später wurde ein anderer, am Boden liegender Mann direkt vor Meggitt mit einem Schlagstock traktiert. „Das scheint mir ein weiterer unprovozierter Angriff gewesen zu sein. Ich weiß, dass solche Demonstrationen für die Polizei schwierig sind. Aber es scheint mir, dass einzelne Polizisten ihre Wut grundlos an Schaulustigen ausließen.“

Das Video und die Zeugenaussagen sind die erste Krise für den Scotland-Yard-Chef Paul Stephenson, der das Amt am 1. Januar übernommen hat. Der Polizist, der Tomlinson zu Boden gestoßen hat, soll vom Unabhängigen Beschwerdeausschuss der Polizei identifiziert und vernommen werden. „Wir werden das Video auswerten, ebenso wie die Aussagen und Fotos, die uns bereits vorliegen“, sagte Deborah Glass, die Sprecherin des Ausschusses. „Ursprünglich hatten unabhängige Zeugen uns gesagt, dass es keinen Kontakt zwischen der Polizei und Tomlinson gegeben habe, als er zusammenbrach. Andere Zeugen, die ihn in der Royal Exchange Passage gesehen hatten, sagten jedoch, dass es diesen Kontakt gegeben habe.“ Nun gelte es, „so weit wie möglich“ herauszufinden, ob dieser Kontakt etwas mit seinem Tod zu tun habe.

Das Video ist von einem 38-jährigen Vermögensverwalter aus New York aufgenommen worden, der sich geschäftlich in London aufhielt und sich die Demonstration aus Neugierde ansah. Er habe die Aufnahmen dem Guardian übergeben, weil Tomlinsons Familie „keine Antworten auf ihre Fragen bekommen“ habe.

Tomlinsons Angehörige baten jeden, der etwas gesehen hat, eine Aussage zu machen. „Ian war ein großer Fußballfan, und er war sehr auffällig in seinem Millwall-Hemd“, sagt sein 26-jähriger Sohn Paul. „Wir möchten klarstellen, dass Ian kein Demonstrant war. Auf dem Material aus den Überwachungskameras geht hervor, dass ihm der Durchgang an einer Reihe von Polizeibarrieren verwehrt wurde. Das fehlende Stück in diesem Puzzle war, was ihm in der Royal Exchange Passage passiert ist. Das Video, das wir gesehen haben, beantwortet viele Fragen. Ian hatte eindeutig seine Hände in der Hosentasche und ging mit dem Rücken zur Polizei. Wir wollen eine Antwort auf die Frage: Warum?“