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Archiv-Artikel

Melodien für 96

Ungehörte Gesänge stimmen in die erfolgreiche Saison der Hannoveraner ein. Mit dem 3:0 gegen Bochum finden sich die Roten auf Platz vier wieder

aus Hannover DIETRICH ZUR NEDDEN

Und jetzt alle: „O wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen, so schön, so schön!“ Es ist ein Gesang aus zehntausenden Kehlen, der durch die Arena wogt, Ausdruck eines uferlosen Glücksempfindens. Seligkeit. Das sehr ansehnliche 3:0 gegen den VfL Bochum wird triumphal gefeiert. Wenige Wochen zuvor wurde ein anderer Text skandiert, ganz ohne Melodie: „Lienen raus, Lienen raus!“ Hannover 96 hatte gegen den klug spielenden Aufsteiger Bielefeld 0:1 verloren und war Schlusslicht. Dass der Tabellenvierte nur sechs Punkte voraus war, interessierte niemanden. So wenig wie der Umstand, dass Hannover durch den holprigen Zeitplan des Stadionumbaus ein chaotischer Einstieg in die Saison beschert worden war. Das Ultimatum, das Fans und Presse dem (damals) ungeliebten Trainer stellten, war mit dem Spiel in Rostock unmissverständlich terminiert. Wehe, ihr kommt ohne Punkt zurück!

Jetzt ist Hannover 96, so lautet eine der bevorzugten Formulierungen, die Mannschaft der Stunde. Fünf Siege in Folge, vierter Tabellenplatz. Das gab's noch nie. Falls doch, wäre es eine Ewigkeit her, so lange, dass es schon nicht mehr wahr ist. Apropos Ewigkeit: Wie lange wird die derzeitige Stunde des Jubelns dauern? Wird man sich dereinst an diese Epoche der schieren Freude und Begeisterung erinnern, wenn, sagen wir: drei Spiele hintereinander verloren gehen? Naturgemäß sind solche Fragen fehl am Platze, will niemand sie hören. So ist Fußball.

Betrachtet man die steile Aufwärtsentwicklung der vergangenen Wochen, fällt dreierlei ins Auge. Abgesehen von dem wie stets sicheren Torwart Enke und Abwehrspieler Michael Tarnat sind alle Spieler aus der Anfangsformation am Sonnabend seit mehr als einem Jahr bei den Roten; mit Cherundolo, Zuraw, Lala, de Guzman, Krupnikovic und Stendel sogar sechs aus dem Kader von 2002, plus der eingewechselte Stajner. Erstaunlich, erwähnenswert und eventuell sogar aufschlussreich deshalb, weil Hannover seit dem Wiederaufstieg insgesamt fast drei Dutzend Neuzugänge begrüßte.

Zweitens ist das Toreschießen nicht mehr überwiegend einem einzigen Stürmer anvertraut: Nach Bobic und Brdaric, die ihr Jahr bei 96 dazu nutzten, sowohl in die Nationalmannschaft berufen zu werden als auch sich höher dotierte Verträge bei Hertha bzw. GTI Wolfsburg zu verschaffen, ist die (be-)treffende Aufgabe auf mehrere Schultern verteilt. Gegen Bochum trafen Christiansen (zum ersten Mal in der Saison), außerdem Stendel und Leandro.

Drittens personifiziert sich die Wende in der Wiedergeburt Nebojsa Krupnikovics: Hatte Lienen anfangs die spielgestalterische Kraft bei Clint Mathis oder Neuzugang Ricardo Sousa vermutet – der Erste scheint nicht dafür geschaffen zu sein, der Portugiese wiederum findet sich (noch) nicht zurecht –, so zeigte sich der Trainer als viel weniger starrsinnig als allgemein angenommen. Lienen gab dem Jugoslawen gegen Rostock eine Chance, und der agiert in der Tat agiler und kämpferischer als früher. Mit Stajner und Stefulj zählen zwei weitere Spieler zum Kreis, die eigentlich schon abgeschrieben waren und die Erlaubnis hatten, sich nach einem neuen Arbeitgeber umzusehen.

„Im Moment passt alles“, sagte Krupnikovic nachher, „von Spiel zu Spiel werden wir immer besser.“ Lienens Vorgänger Rangnick nannte es in einem Interview einmal den Flow, der eine Mannschaft erfassen kann. Auch Bochums Trainer Neururer eröffnete seine Stellungnahme in der Pressekonferenz mit dem Hinweis, das 96 das erlebe, „was wir im letzten Jahr erlebt haben“. Schwung, Selbstsicherheit und perfekte Organisation seien kennzeichnend für Situationen wie diese. Lienen seinerseits ließ eine Phase vor der Pause nicht unerwähnt, in der 96 „keinen Fußball mehr gespielt“ und die „Bälle nur rausgeschlagen“ habe.

Egal beziehungsweise daran wird gearbeitet. Hochkonzentriert. Und am kommenden Wochenende reist Hannover 96 zum Tabellennachbarn Bayern München.