Die Lust am Fokus

Kunst mit Fledermäusen, Rokoko-Kleid, Reinkarnationsgemeinschaft und Bin Ladens Wohnzimmer: Bis Dezember werden in der Londoner Tate Britain die Arbeiten der diesjährigen Turner-Preis-Nominierten ausgestellt. Alle suchen nach einem präzisen Blick auf die von der Globalisierung veränderte Welt

VON JULIA GROSSE

Die Ausstellung der diesjährigen Turner-Preis-Kandidaten in der Londoner Tate Britain beginnt mit einer Leerstelle. Ein Film des Künstlerduos Langlands & Bell darf nicht gezeigt werden. Es sei politisch zu brisant, befürchten die Tate-Anwälte. Denn die Arbeit „Zardad’s Dog“ enthält Dokumentarfilmaufnahmen des ersten Prozesses am Kabuler Obersten Gerichtshof nach Stürzung des Talibanregimes. Der damalige Angeklagte war ein Handlanger eines afghanischen Warlords, dem nun ausgerechnet parallel zur Ausstellung in London der Prozess gemacht wird.

So bleibt der Videoscreen vorerst schwarz, zu hören ist ein Ausschnitt aus der Tonspur des Films, das Gebet zur Eröffnung der Verhandlung. Obgleich man nichts sieht, ist man ganz nah dabei, bemerkt jedes Husten, jedes Rutschen auf den Stühlen. Neben Langlands & Bell, die im Oktober 2002 für eine offizielle Auftragsarbeit vom Londoner Imperial War Museum im Nachkriegsafghanistan waren, wurden Kutlug Ataman, Jeremy Deller und Yinka Shonibare nominiert.

Langlands & Bell reflektieren in ihren Arbeiten, etwa in „House of Osama bin Laden“, einer virtuellen, wie ein Ego-Shooter-Spiel aufgebauten Rekonstruktion, am offensichtlichsten aktuelle Politik. Aber auch die anderen Nominierten richten einen präzisen Blick auf die globalen Zusammenhänge. Schlaue politische Kunst zu machen ist schwer, da ein künstlerisches Vokabular kaum zu finden ist, mit dem man die Stimme erheben kann, ohne gleich zum politischen Aktivisten zu werden. Aus diesem Grund bleiben die meisten in der Rolle des kritischen Beobachters. Der Londoner Künstler Jeremy Deller hat einen dokumentarischen Film über Texas gemacht, nähert sich ehemaligen Sektenmitgliedern, langhaarigen Countrysängern, Ameisenkolonien und Millionen von Fledermäusen, die jede Nacht unter grauenvollem Geflatter aus ihrer Höhle strömen. Doch genau in den Momenten, in denen etwa eine Frau in einem Diner erzählt, dass George W. Bush bei ihnen immer Cheeseburger mit Zwiebelringen isst, und die Besucher in der Ausstellung zum hundertsten Mal über das so eigenartige Amerika lachen, wird der Film banal. Wunderbar dagegen ist Dellers ehrgeiziger Versuch der Kunstvermittlung, den er mit einem langen Büchertisch zelebriert, auf dem sich zu jedem Aspekt in seinen Arbeiten etwas zum Schmökern findet. Über Fledermäuse, Texas, oder den englischen Minenstreik Mitte der Achtziger.

Wo Jeremy Deller wie ein engagierter, humorvoller Politiklehrer versucht, Transparenz zu schaffen, da stiftet Kutlug Ataman Verwirrung. In einem abgedunkelten Raum erzählen sechs Bewohner einer an Reinkarnation glaubenden Gemeinde im Südosten der Türkei von ihren Leben, zum Beispiel davon, wie es sich anfühlt, nach einer Explosion beigesetzt zu werden, genauso alt zu sein wie der eigene Sohn und sich an seine Frau zu erinnern. Die Filme des türkischen Künstlers befassen sich mit dem Leben von Menschen, die sich jenseits konventioneller Kategorien neu erfinden wollen oder müssen. Die Arbeit „Twelve“ hat Ataman als Reaktion auf die derzeitigen politischen Situationen im Nahen Osten konzipiert. Und so erscheint der Glaube an die Wiedergeburt wie eine Art Selbstschutz, um mit Verlusten und traumatischen Erinnerungen umzugehen: Wenn die Seele nicht sterben kann, verschwindet auch die Angst vor dem Tod. Am beeindruckendsten an dieser Arbeit ist der unterschwellige Konflikt, den die Protagonisten mit dem Aufbrechen traditioneller Familienautoritäten haben – so die plötzlich verkehrte Beziehung zur eigenen Mutter oder die Unfähigkeit, dem gleichaltrigen Sohn ein Respekt gebietender Vater zu sein.

Für die Besucher der Ausstellung steht der diesjährige Preisträger ohnehin schon fest, es ist Yinka Shonibare, Engländer nigerianischer Herkunft und etablierter Star der britischen Kunstszene. Shonibares Werk ist im Gegensatz zu den anderen, eher dokumentarischen Beiträgen das reinste Sinneserlebnis. Eine kopflose Frauenfigur in einem Rokoko-Kleid, geschneidert aus afrikanisch anmutenden Stoffen, vergnügt sich auf einer Schaukel und schleudert ihre Pantolette vom Fuß, „Swing (after Fragonard)“ lautet der Titel. Yinka Shonibare verführt die Besucher mit prachtvoller Farbigkeit, um im gleichen Moment die Schizophrenie der globalisierten Welt in schweren Faltenwürfen offen zu legen. Denn die „typisch“ afrikanischen Wachsstoffe mit ihren Musterungen aus Wohlstandssymbolen – Mercedessternen, Mobiltelefonen – werden zwar in Afrika getragen, jedoch in Europa produziert, wo Shonibare sie im Londoner Süden kauft. Rokoko trifft Brixton.

Jahr für Jahr stellt der Turner-Preis die Frage nach der Definition des Künstlers. Geht es bei dieser Definition um die thematische Relevanz eines Werks oder um die Fähigkeit eines Künstlers, eine tief in ihm sitzende Vision zu vermitteln? Entscheidend in diesem Jahr scheint, dass sich keiner der Kandidaten den politischen Fokus nur ausleiht, um ihn wie ein Logo an das Werk zu heften. Jeder hat seinen ganz eigenen, berechtigten Zugang. Was sie alle teilen, ist das Verlangen, einen präzisen, unbeirrten Blick auf die Welt da draußen zu richten. Am 6. Dezember wird der Preisträger bekannt gegeben.

Bis 23. Dezember, Tate Britain