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Archiv-Artikel

Unter den Besten

Trotz seiner Halbfinal-Niederlage gegen Andre Agassi hat Rainer Schüttler eine „geniale Saison“ hinter sich

HOUSTON taz ■ Samstagnachmittag, kurz nach halb fünf, stopfte Rainer Schüttler seinen Schläger in die große, knallrote Tasche und zog den Reißverschluss zu. Sssst – Ende der Saison, nach hundert und einem Spiel. Nach dem besten Jahr seiner Karriere mit insgesamt 71 Siegen, mit dem Aufstieg in der Weltrangliste von Platz 33 auf Platz 6, mit zwei ATP-Titeln, einem Grand-Slam-Finale, mit der ersten Teilnahme am Masters Cup und mit einem Preisgeld von 1,875 Millionen Dollar. „Eine geniale Saison“, wie er sagt – aber mit einem zwiespältigen Schluss. Weniger wegen der Niederlage im Halbfinale gegen Andre Agassi (7:5, 0:6, 4:6) als wegen einer ganz bestimmten Szene, in der er nicht nur den Schläger verlor.

Mit einem zwingend aufgebauten Spielzug hatte er gerade den ersten Satz gewonnen, Agassi wirkte zwar nicht angeschlagen, aber sichtlich beeindruckt, und Schüttler hatte das Geschehen im Griff. Bis zu jenem Moment beim Stand von 40:30 im ersten Spiel des zweiten Satzes, als ihm beim Aufschlag der Schläger aus der schweißnassen Hand rutschte und zu Boden fiel. Agassi machte den Punkt, Schüttler ärgerte sich gewaltig über das Missgeschick, und bis er die Gedanken und sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, hatte er dieses Aufschlagspiel und ein weiteres verloren, lag 0:4 zurück und verlor den Satz schließlich 0:6.

Vor allem aber hatte er das verloren, was die Sportler gern momentum nennen. Das Schwungrad in seinem Spiel lief nicht mehr rund, Agassi spürte das und forcierte sofort das Tempo. Eine gefährliche Kombination. Die Szene sei nicht entscheidend gewesen, meinte Schüttler später; schließlich habe er sich Anfang des dritten Satzes wieder in Griff gehabt und habe es geschafft, das Spiel offen zu gestalten. Stimmt. Von 0:2 kam er heran auf 2:2, machte spektakuläre Punkte, für die er sogar Beifall von Agassis Coach Darren Cahill bekam, und wirkte noch einmal so stark, dass der Sieg in Reichweite lag.

Am Ende fehlte ihm, so banal das klingen mag, in entscheidenden Szenen vor allem das Glück. Denn ist es mehr als eine Frage des Glücks, wenn der Ball anstatt auf der Linie einen Zentimeter daneben landet? Oder wenn er beim Matchball von der Netzkante so hoch abspringt, dass der Gegner alle Zeit der Welt hat, um sich perfekt zum Ball zu stellen um das Spiel mit einem geschenkten letzten Punkt zu beenden?

Dieses Halbfinale in Houston war wieder ein treffendes Beispiel dafür, dass es im Kreis der Besten meist nicht darum geht, wer die gefährlicheren Schläge hat, sondern wer in der Lage ist, die unvermeidlichen Brüche in der Psychologie des Spiels schneller zu verdauen; keiner spielt zwei Stunden auf dem gleichen Niveau. „Wir haben alle unseren Frust da draußen“, sagt Andre Agassi, „an manchen Tagen kommen wir besser damit zurecht als an anderen.“

Was Schüttler passierte, war am Tag zuvor auch Guillermo Coria passiert, der gegen Andy Roddick führte und in ein paar Momenten der Unachtsamkeit die Kontrolle über das Spiel verlor. Und in gewisser Weise gab Schüttler selbst hinterher zu, welche Bedeutung der ominöse Moment zu Beginn des zweiten Satzes gehabt hatte. Als er gefragt wurde, woran er vermutlich am nächsten Morgen beim Aufwachen denken werde, da antwortete er, ohne zu zögern: „An die Szene, in der ich den Schläger verloren habe.“

Vorbei, nichts mehr zu ändern. Was bleibt, ist die Befriedigung darüber, im Kreis der acht Besten mit Siegen gegen die Nummer eins (Roddick) und vier (Coria) das Halbfinale erreicht zu haben – der letzte Kraftakt eines ebenso erfolgreichen wie anstrengenden Jahres. Jetzt steht ihm der Sinn nur noch nach Urlaub. Zehn Tage in Florida wird er sich gönnen, keinen Tennisschläger mehr bewegen, sondern nur noch Badehose und Badeschlappen tragen. Zehn Tage sind nicht viel, aber es bleibt kaum mehr Zeit, wenn er sich in seiner bewährt akribischen Form auf die neue Saison vorbereiten will. Dass er einer der am besten trainierten – wenn nicht sogar der beste – Spieler war, hat ihm 2003 von Anfang an geholfen. Und genauso soll es auch 2004 sein.

DORIS HENKEL