: Stimulans für Solidarität
Im Gegensatz zur Kopfpauschale schafft die Bürgerversicherung mehr Gerechtigkeit und mehr Wettbewerb in der Gesundheitsversorgung. Und wohl auch mehr Arbeitsplätze
Grundlagen der Agenda 2010 der Bundesregierung sind eine ökonomische und eine philosophische Erkenntnis. Die ökonomische Erkenntnis ist die, dass die strukturelle Arbeitslosigkeit durch die klassische Konjunkturpolitik nicht mehr abbaubar ist. Dies gilt umso mehr, als eine solche Konjunkturpolitik in einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft nicht das Wachstum erzielen kann, das zur Schaffung neuer Arbeitsplätze benötigt würde. Es wird also der ehrliche und alternativlose Versuch unternommen, die Schwelle des Wachstums, ab der Arbeitsplätze entstehen können, zu senken.
Die philosophische Erkenntnis ist die, dass eine gerechte Gesellschaft auch gerechte Einkommensungleichheiten zulassen muss. Einkommensungleichheit ist somit unter gerechten Bedingungen nicht eine unvermeidbare Restungerechtigkeit, sondern wünschenswert. Die gerechten Bedingungen setzen aber voraus, dass die Grundfreiheiten und die Chancengleichheit in der Gesellschaft für jeden erreicht worden sind. Gilt dies nicht, kann die resultierende Einkommensverteilung einer Gesellschaft nicht mehr als gerecht angesehen werden. Außerdem dürfen die Einkommensunterschiede nur so groß sein, dass sie die Lebensumstände der sozial Schwachen nicht verschlechtern. Diese philosophischen Grundgedanken gehen im Wesentlichen auf John Rawls und Amartya Sen zurück und beeinflussen weltweit unter dem Begriff der „Teilhabegerechtigkeit“ die sozialdemokratischen Grundsatzprogramme.
Was hat all dies mit der Bürgerversicherung im Gesundheitssystem zu tun? Die zwei zentralen Pfeiler der Chancengleichheit sind Bildung und Gesundheitsversorgung. In einer gerechten Gesellschaft sollten weder die Bildungschancen noch die Gesundheitsversorgung vom Einkommen abhängen – sonst entstehen Einkommensverteilungen, die nicht mehr als gerecht angesehen werden können. Von dieser Perspektive aus betrachtet, steht es um die erreichte Sozialdemokratie in Deutschland noch nicht so gut.
Die Pisa-Studie hat ergeben, dass die Bildungsergebnisse in Deutschland besonders stark vom Einkommen der Eltern abhängen. Dazu haben wir ein solidarisches Gesundheitssystem, an dem sich ausgerechnet die leistungsstärksten, gesündesten und am besten gegen Arbeitslosigkeit abgesicherten Bevölkerungsschichten nicht beteiligen. Unser Gesundheitssystem erlaubt eine fortschreitende Entsolidarisierung, die der Staat selbst durch die Festsetzung der Versicherungspflichtgrenze reguliert.
Da das Leistungsangebot der privaten Krankenkassen durch eine höhere Bezahlung der Ärzte und Krankenhäuser einen besseren Zugang zu Spezialisten in fast allen Gebieten bietet und auch die für die gesetzlichen Kassen beschlossenen Mehrbelastungen für privat Versicherte nicht gelten, hat sich in Deutschland eine Zweiklassenmedizin entwickelt, der die Bevölkerung nie zugestimmt hat. Eine Bürgerversicherung, wie sie in fast allen europäischen Ländern bereits realisiert wurde, sieht daher die Ausweitung des Versichertenkreises auf alle Bürger, also auch auf Beamte, Selbstständige und Gutverdienende, vor.
Zwar verursachen diese neuen Mitglieder auch neue Ausgaben. Diese sind aber nur durchschnittlich hoch, während sie überdurchschnittlich hohe Beiträge entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit einzahlen würden. Mit jedem Mitglied, das jetzt die gesetzlichen Krankenkassen freiwillig verlässt, verliert das solidarische System nach Berücksichtigung der Kosten dieser Mitglieder etwa 3.000 Euro jährlich an Beiträgen. Außerdem würden neben Löhnen und Gehältern auch Beiträge für Miet-, Zins- und Kapitaleinkünfte erhoben.
Das wichtigste Grundziel einer Bürgerversicherung bleibt es aber, zu erreichen, dass die Qualität der Versorgung in Zukunft nur vom medizinischen Bedarf und nicht von der Zahlungsfähigkeit oder dem Versichertenstatus des Patienten abhängt. Hier besteht ein zentraler Unterschied zwischen Sozialdemokratie und konservativer politischer Philosophie: Im Sinne Letzterer kann es gerecht sein, wenn die so genannten Leistungsträger einer Gesellschaft auch eine bessere Gesundheitsversorgung genießen, solange eine Grundversorgung für alle erreicht wurde.
Als Alternativvorschlag zur Bürgerversicherung wurden von der Herzog-Kommission und von Bert Rürup Kopfpauschalen vorgeschlagen. Kopfpauschalen werden begründet mit dem Argument, sie seien für den Arbeitsmarkt vorteilhafter. Gewinner der Kopfpauschalen wären insbesondere Alleinstehende mit hohen Einkommen. Familien, Geringverdiener und Rentner würden belastet. Daran ändert auch der soziale Ausgleich von 25 Milliarden Euro nichts, der über Steuern finanziert werden muss.
Dass Arbeitsplätze geschaffen würden, muss bezweifelt werden. Zwar steigt durch die Entlastung die Nachfrage der Gutverdienenden nach Arbeit, wie der Sachverständigenrat korrekt ausführt. Dass aber mit der steigenden Nachfrage der Gutverdienenden auch das Angebot von Arbeitsplätzen oder die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt steigen würde, ist unwahrscheinlich: Zum einen steigt bei der Einführung der Kopfpauschale die Grenzbelastung für Geringverdiener, und es ist gerade diese Gruppe, die wegen zu hoher Grenzbelastung häufig die Schwarzarbeit einer regulären Beschäftigung vorzieht. Zum anderen sinkt die Konsumnachfrage der unteren und mittleren Einkommensgruppen wegen der Nettohöherbelastung durch die Summe von Kopfpauschale und Steuererhöhung. Die Entlastungen konzentrieren sich auf die Haushalte mit den hohen Einkommen und der höchsten Sparquote, die Belastungen dagegen fallen auf die Haushalte mit der höchsten Konsumquote. Daher wird die Kopfpauschale eher zu Konsumrückgang führen.
Auch die internationalen Erfahrung mit Kopfpauschalen sind nicht ermutigend. Nur die Schweiz hat Kopfpauschalen (seit dem Jahr 1996 in allen Kantonen) eingeführt. Sie haben dort kein zusätzliches Wirtschaftswachstum gebracht. Im Vergleich zu Ländern mit Bürgerversicherung ist die Produktivität in der Schweiz in den letzten Jahren nicht stärker gestiegen, in den letzten zwei Jahren hatte die Schweiz sogar ein niedrigeres Wachstum der Produktivität als Deutschland. Sogar die eidgenössischen Gesundheitskosten sind stärker angestiegen als im europäischen Durchschnitt. In Europa ist nur das Gesundheitssystem der Schweiz teurer als das in Deutschland. Selbst die Arbeitslosigkeit ist in der Schweiz im letzten Jahr stärker gestiegen als bei uns.
Es darf niemals übersehen werden, dass das deutsche Gesundheitssystem heute etwa ein Drittel teurer ist als die europäischen Gesundheitssysteme im Durchschnitt, aber nur durchschnittliche Qualität aufweist. Die von Ministerin Ulla Schmidt durchgesetzte Gesundheitsreform setzt genau hier an und muss weitergeführt werden. Private Krankenversicherungen müssten für diesen Wettbewerb nicht abgeschafft werden. Wenn sie wie die gesetzlichen Kassen einkommensabhängige Beiträge erheben würden, auch Normalverdiener und bereits Erkrankte aufnehmen müssten und am Risikostrukturausgleich der Kassen teilnehmen würden, bestünde der Unterschied zu den gesetzlichen Krankenkassen nur noch darin, dass Private Gewinne erzielen dürften. Dann könnte sich ein echter Qualitätswettbewerb innerhalb eines solidarischen Systems entwickeln, statt einer permanenten Entsolidarisierung durch zwei parallele Systeme ohne Wettbewerb.
Die Bürgerversicherung schafft mehr Gerechtigkeit und Wettbewerb in der Gesundheitsversorgung. Und wahrscheinlich auch mehr Arbeitsplätze als die Kopfpauschalen – schließlich kompensiert sie zukünftige demografische Herausforderungen durch die Einbeziehung Gutverdienender und von Miet-, Zins- und Kapitaleinkünften. Kopfpauschalen dagegen würden uns in jeder Phase der konjunkturellen Schwäche erneut vor die Alternative einer Rationierung von Leistungen oder einer die Konjunktur weiter schwächenden Steuererhöhung stellen, weil dann die Zahl der Zuschussbedürftigen stiege.
Die ungerechteste Lösung aber wäre eine Kopfpauschale für Normalverdiener, während sich Gutverdienende und Beamte weiter privat absichern könnten. Damit wären diejenigen, die Rationierung beschließen, dieser selbst nicht ausgesetzt – und die bereits heute etablierte Zweiklassenmedizin würde weiter gefestigt. KARL LAUTERBACH