: Warum wir heute alle Amerikaner sind
George W. Bush hat in Deutschland so viel Verachtung auf sich vereint wie Kennedy Verehrung. Aber auch er hat die Beziehungen der BRD zu den USA nicht gelockert. Auch diese US-Wahl gehört also in die Geschichte der Amerikanisierung des Planeten – genauso wie die MoMA-Schlange und Halloween
VON MICHAEL RUTSCHKY
Mitte der Neunziger beobachtete es ein Ostbürger, professionell mit Kultur befasst, verblüfft an seinen eigenen Leuten. Wie widerstandslos, mit der Geschwindigkeit einer Modeerscheinung das alberne Halloweenfest in die ehemalige DDR eindrang. Eifrig höhlte man Kürbisse aus, erfand Verkleidungen, probte Bettelauftritte und versammelte sich um Horrorfilme im TV. „Als hätten wir auf einen amerikanischen Volksbrauch bloß gewartet.“ Dabei hielt das Beitrittsgebiet bei anderen Belangen am Misstrauen gegen die Vereinigten Staaten treu fest. Der Kosovokrieg entsprach den eingefleischten Überzeugungen, betreffend den US-Imperialismus, auf das Glücklichste.
Während wir auf dem Balkon plauderten, unser Abendbier schlürfend, verabschiedete sich der Sohn des Ostbürgers. Er ging zu einem American Football Match. Diese Sportart erwarb Anhänger mit gleichfalls rasender Geschwindigkeit, auch im Westen – es spiele eine Ostberliner Mannschaft gegen eine Westberliner, erzählte der Vater, regelmäßig, aber hinterher feiern sie getrennt. Wir kamen dann auf die Countrymusic, die schon in der real existierenden DDR gepflegt wurde, mit allerhöchster Billigung, weil sie irgendwie als authentische Arbeiter- und Bauernmusik gelten konnte.
Die Deutschen adaptierten Halloween und American Football, so wie sie zuvor Blue Jeans zu tragen und Rock ’n’ Roll zu tanzen gelernt hatten; zu beiden Themen konnte der Ostbürger gleichfalls Erhellendes sagen. Die Blue Jeans (ursprünglich authentische Arbeiter-und-Bauernhosen) verhimmelt der Held in Ulrich Plenzdorfs kanonischen „Neuen Leiden des jungen W.“ (1972) bekanntlich so hitzig wie der deutsche Jüngling ein paar Generationen zuvor den heiligen Gral. Und auch in puncto Rock ’n’ Roll setzten sich die amerikanischen Kulturgüter gegen den Widerstand der SED durch: Es misslang der Partei vollständig, diese Musik als dekadent zu verbieten. Erinnert sich noch eine/r an „Lipsi“, den ersten sozialistischen Gesellschaftstanz? Dafür entstand eine eigene DDR-Rockszene …
Gern hätte ich in diesem Sommer mit dem Ostbürger, professioneller Kulturbeobachter, die MoMA-Schlange durchgesprochen. Einen halben Tag lang warteten die Leute vor der Neuen Nationalgalerie zu Berlin, um drinnen die Meisterwerke bestaunen zu können, die das Museum of Modern Art zu New York dort zeigte. Die Massen standen Schlange, könnte man sagen, um metonymisch NYC in Berlin zu erleben; schon das stundenlange Warten gestaltete sich zum Fest; nun ja, keineswegs jedenfalls als Tortur. Passt diese Leidenschaft für moderne Hochkunst mit der für Halloween und American Football und Rock ’n’ Roll und Blue Jeans (und das Hollywoodkino und den Jazz, you name it) überhaupt zusammen?
Das MoMA mit seiner exquisiten Sammlung hat Erfolg mit einem ganz eigentümlichen Experiment. Es machte aus einer hermetischen Kunstübung ein Massenvergnügen; Werke (von Cézanne, Picasso, Paul Klee, Kandinsky, you name it), die in Europa nur ein kleines Publikum von Connaisseuren anzogen, verwandelte das MoMA in populäre Erfolge – wie die Schlange noch einmal demonstrierte. Parallelfälle für die ebenso hermetische Poesie oder Musik des 20. Jahrhunderts fehlen; keine Arena füllt sich regelmäßig, wenn Emma Thompson oder Bruno Ganz „The Waste Land“ von T. S. Eliot rezitieren, und auf den Musik-Clip mit Schönbergs Gurre-Liedern warten wir vergeblich.
Die historischen Prozesse, die aus dem MoMA – die Erfindung eines gewissen Alfred J. Barr jr. – einen solchen sozialen Erfolg gemacht haben, sind schwer zu entschlüsseln. Gewiss verhält sich der amerikanische Kulturkonsument unbefangener angesichts der Kulturgüter; als ich mal in Chicago eine Ausstellung mit der Druckgrafik eines gewissen Jasper Jones besichtigte, kam eben eine Lehrerin mit einer Gruppe sehr junger Schüler herein: „You’re going to have a lot of fun.“ Diese Unbefangenheit imitieren die Westdeutschen seit 1945 dankbar – was aus der Ausstellungsreihe Documenta in Kassel einen dem MoMA vergleichbaren Erfolg gemacht hat. Aber hier treten wir jetzt nicht näher heran.
Gern hätte ich mit jenem Ostbürger, mit dem ich irgendwie auseinander gekommen bin, nämlich die Frage erörtert: Ob die MoMA-Schlange auch als politische Demonstration zu verstehen sei? Gegen George W. Bush, il presidentino, der in der Bundesrepublik so viel intensive Abneigung und Misstrauen auf sich versammelt, wie es bei Kennedy Bewunderung, ja Verehrung war. Aber es gibt, will die MoMA-Schlange sagen, ein anderes Amerika als das dieses lazy rich kid, umstellt von einer Schar böser, alter Onkel, die seine Intelligenzdefizite ausgleichen. Das MoMA mit seinen Schätzen kann metonymisch dies Amerika vertreten, und indem wir geduldig auf die Besichtigung warten, demonstrieren wir für dessen Fortexistenz.
Das ist natürlich Unfug. Aber einer, wie man ihn gern ausspinnt. Das sind die alles andere als realistischen, vielmehr durchdringend phantasmatischen Beziehungen, die die Bundesrepublik zu den USA und zu ihren Präsidenten unterhält, Beziehungen, wie wir sie mit keinem anderen Land der Welt pflegen (Lukaschenko in Weißrussland ist womöglich viel folgenreicher; demnächst beginnt er einen Krieg mit der Ukraine, der die BRD fast um ihre Existenz bringt, weil …).
Neulich verstieg sich ein Kulturbeobachter (westdeutsch) zu diesen zauberhaft steilen Vergleichen: 9/11, das ist der Reichstagsbrand, der die Machtergreifung der Nazis rechtfertigte, und diese Präsidentenwahl jetzt bietet die letzte, verzweifelte Möglichkeit, ein faschistisches Amerika zu verhindern … Ein schöner Gedanke. Der umso reizvoller ist, als ihm jeder sachliche Gehalt und jeder Handlungsimpuls abgehen; denn die Deutschen stellen ja im Electoral College keinen einzigen Wahlmann (was, wie ein witziger amerikanischer Beobachter dieses Jahr feststellte, womöglich das zentrale Problem des so genannten Antiamerikanismus ist: Eigentlich möchten alle Länder der Erde als US-Bundesstaaten bei der Präsidentenwahl mitbestimmen).
Es verhält sich also keinesfalls so, dass der 43. Präsident die Beziehungen der BRD zu den USA gelockert hätte. Die Deutschen partizipieren – im Imaginären – an dieser Wahl auf das heftigste. Gern sagen sie sich (oder lassen es sich von Amerikanern sagen), dies sei die wichtigste und folgenreichste Wahl der Geschichte (eine sehr amerikanische Redeformel: Stets gilt es da, einen neuen Rekord aufzustellen). Der eklige und paranoide Michael Moore, stets schaut es so aus, als wäre „Fahrenheit 9/11“ speziell für uns gemacht.
So gehört diese Wahl in die Geschichte der Amerikanisierung des Planeten, die anscheinend unwiderstehlich fortschreitet und sich in der Adaptation eines Volksbrauchs (Halloween) und Kunstgenusses (MoMA in Berlin) ebenso ausdrückt wie in der leidenschaftlichen Teilnahme an einem Wahlkampf und der Abneigung gegen einen der Kandidaten. Die „seinsmäßige“ Unterscheidung von Freund und Feind soll der Inbegriff des Politischen sein – bloß kann man es unterdessen in anderen Formen als Krieg und Bürgerkrieg verfolgen. Das macht die Demokratie so erfreulich.