: Die Muse kam
Sturm live: Bei Dussmann las der amerikanische Autor John Griesemer aus seinem zweiten Roman „Rausch“
Als der Ausguck Backbord voraus den Brecher entdeckt, der mehr als doppelt so hoch ist wie alle, die die „Agamemnon“ bisher in diesem Sturm überstanden hat; als er die Besatzung des Schiffs warnt, obwohl die Zeit nicht reichen wird, um noch Vorsichtsmaßnahmen zu treffen; als die „Agamemnon“ dann steil den nächsten Wellenkamm hinaufsteigt, ehe sie sich schließlich der gigantischen Wasserwand stellen muss, und als dann einen Augenblick lang Stille herrscht – da ist das Berliner Kulturkaufhaus, in dem wir uns eigentlich befinden, in weite Ferne gerückt.
Der amerikanische Autor John Griesemer liest aus seinem zweiten Roman „Rausch“, der jetzt im Mare Buchverlag erschienen ist. Mit Griesemers Helden Chester Ludlow befinden wir uns im Jahr 1857 und verlegen das erste Transatlantikkabel, doch wieder und wieder droht das Scheitern. Der Sturm tobt mitten auf dem Atlantik, das ganze Unternehmen scheint eigenartigen Sabotageakten ausgesetzt. John Griesemer hat an diesem Abend das Meer in seiner Stimme: Er liest im Stehen, und immer wieder gerät ihm sein Vortrag fast zu einem Theaterstück, in dem er sämtliche Rollen ausfüllt – die des rufenden Ausgucks, die von Chester Ludlow, die des hilflosen Kapitäns und die der schönen Katerina, Chesters Geliebten. Bei Griesemer, der lange Schauspieler gewesen ist, tobt der Sturm live, der Rhythmus seiner Wellen scheint die Stuhlreihen in Bewegung zu versetzen.
Vom ersten Augenblick an hat Griesemer sein Publikum in der Hand: Zur Begrüßung erzählt er kurz, er habe es seinerzeit als GI in „Wurzburg“ leider versäumt, Berlin zu besuchen, aber immerhin habe er jetzt, 32 Jahre später, doch noch eine Möglichkeit gefunden, die Stadt kennenzulernen: „It took me a lot of paperwork!“, sagt er ironisch und ein bisschen kokett über sich und seinen 700-Seiten-Roman.
Die virtuose Erzählkunst, die der Autor über die epische Länge seines Romans hinweg entfaltet, kontrastiert merkwürdig mit dem höflichen Understatement, mit dem er den rhetorischen Fragen seines deutschen Verlegers im Gespräch nach der Lesung begegnet: Tatsächlich gehe es ihm in seinem Roman nur zum Teil um die Darstellung der technischen Entwicklung, denn dass die Verlegung des Kabels erfolgreich war, das sei heute bekannt. Er wolle vor allem Geschichten über Menschen erzählen. Wie er seinen Stoff gefunden habe? „The muse came to me and she was beautiful!“ ANNE KRAUME