BVG = Barmherzigkeit, Verstehen, Glaube: Falle tief, und du wirst die Gnade des Busfahrer-Gottes erfahren
In einer Kurzgeschichte von Etgar Keret, der ist israelischer Autor, beschließt ein Busfahrer, entgegen seiner üblichen Prinzipien, einem verspäteten Fahrgast die Tür zu öffnen, obwohl er eigentlich gerade dabei ist, loszufahren. Die Sache geht für den jungen Mann, dem sich unerwartet die Tür öffnet, nicht gut aus. Er kommt zwar rechtzeitig am Treffpunkt an. Aber sein Date versetzt ihn. Die Geschichte heißt „Der Busfahrer, der Gott sein wollte“.
Vermutlich gibt es auch in dieser Stadt nicht wenige Kutscherkollegen, die sich, in Momenten schonungsloser innerer Offenheit, darin wiedererkennen würden. Und es gibt wahrscheinlich noch deutlich mehr Fahrgäste, die ihren Busfahrern unterstellen, dass die sich zwar gottgleich, aber unbarmherzig aufführen.
Manchmal allerdings sind Busfahrer eben auch gnädige Götter. Ich war spät, viel zu spät. Aber statt den Termin einfach Termin sein zu lassen und den Professor ein andermal zu sprechen, stürzte ich aus der U-Bahn-Station auf den Bus der Linie 148 zu. Die Linie 148 ist eine sehr spezielle Buslinie. Sie führt quer durch Berlin. Von ganz oben nach ganz unten, und die Busfahrer richten auf ihr gerne Verfolgerrennen aus oder machen komische Kolonnenspiele, so dass entweder drei Busse auf einmal kommen, von denen dann aber nur einer hält, oder mehrere Tage lang gar keiner. Ich wusste um diese Eigenart der Linie 148, weshalb ich umso entschlossener der vordersten Tür entgegensprintete. Der Busfahrer sah mir nicht unfreundlich in die Augen und wendete sich ab. Die Türen schlossen sich, der Bus fuhr los.
Da zog mir ein herbstlich-feuerfarbenes Blatt einen Schuh ganz entschieden zur Seite. Ich war unvorbereitet, konnte mich schlecht wehren und fiel schräg nach vorne. Nur für den Bruchteil einer Sekunde verharrte ich am Boden, bevor ich mich mit der linken Hand abstieß, um weiter vorwärts zu hechten. Ich muss ausgesehen haben wie ein Tipp-Kick-Torwart, der zur Ballabwehr aufs Spielfeld knallt und im selben Moment schon wieder zurückschnellt.
Der Bus fuhr, als ich gerade damit beschäftigt war zu stürzen, einige wenige langsame Meter nach vorne. Dann hielt der Fahrer noch einmal an und öffnete mir eine Hälfte der vordersten Tür. Sein Gesichtsausdruck war von erschreckender Neutralität. Weder lachte er, noch schüttelte er belustigt-mitleidig den Kopf. Ich stieg ein, bedankte mich artig und zeigte meinen Personalausweis vor.
Wahrscheinlich wäre die Geschichte auch ohne den beeindruckenden Sturz gut ausgegangen. Jener Professor weiß wenig über seine Sprechstundenzeiten. Er ist jedes Mal aufs Neue überrascht, wenn jemand zu ihm kommt. Das Erlebnis jedenfalls brachte eine wundersam unprofane Einsicht: Man muss nur tief genug fallen, um die Gnade des Busfahrer-Gottes zu schauen. Johannes Gernert
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