: Nichtverstehen verstehen
Das Befremden überwunden: Morton Feldman, der das Scheitern eigentlich einkalkuliert hatte in seine Kompositionen, rückt zur Klassik auf, wie neue Produktionen in Stuttgart und Bonn zeigen
VON FRIEDER REININGHAUS
Abweisend, undurchdringlich und unerreichbar: Wie die Sprache Samuel Becketts, so erwies sich, als sie in den 70er- und 80er-Jahren hierzulande auftauchte, auch die Tonkunst von Morton Feldman als hermetisch. Da sie bei mitunter geringer Strömungsgeschwindigkeit und minimaler Bewegung exzessiv viel Zeit beanspruchte, machte sie manche Hörer zumindest ungeduldig, wenn nicht unwillig. Nach dem Tod des New Yorker Komponisten im Jahr 1987, so ist der Gang der künstlerischen Welt, wurde es ruhiger und immer noch ruhiger um den musikalisch scharfsinnigen und scharfzüngigen Unruhegeist: „Obwohl wir uns sehr bemühten, ihrer habhaft zu werden, hat sich die Musik aus dem Staub gemacht“, diagnostizierte er als das entscheidend gewordene „kompositorische Problem“ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts: „Sie ist uns entwischt.“
Feldman, Jahrgang 1926, war sich mithin zumindest nicht sicher, ob die akustischen Environments, die er oder der alternde John Cage kreierten, noch als Musik im traditionellen Sinn aufgefasst werden sollten. Denn nicht länger war ihnen mit der von G. W. F. Hegel inspirierten Idee von Musik als „Geist in geistfähigem Material“ (Eduard Hanslick) beizukommen. Denn Feldman operierte wie Cage strikt ahistorisch, sogar militant antihistorisch, wollte alle Spuren der europäischen Tradition aus seinen Arbeiten tilgen. Alle Technik, davon war Feldman überzeugt, könne nur „das Unverständliche strukturieren“. Zur Erfahrung mit Kunst in fortgeschrittenen Abstraktionsgraden und absurdem Theater kam negative Dialektik pur: „Damit Kunst gelingt, muss der Künstler scheitern.“
Ob der extreme Weg, den Feldman einschlug, zum „Scheitern“ führte, lässt sich rezeptionsgeschichtlich noch kaum bestimmen. Augenblicklich sieht es eher so aus, als würden die Feldman-Aktien wieder steigen, wie die Uraufführung von „Neither“ in der Staatsoper Stuttgart und eine Installation von Achim Freyer in der Bundeskunsthalle Bonn zeigten.
Es sind wohl Bilder, bewegte Bilder und szenischer Kontext, die Feldman-Produkten nun zu neuem musikalischen bzw. musiktheatralischem Leben verhelfen. Der Vorgang funktioniert verblüffend. Denn nicht nur haben sich die Hörgewohnheiten in den letzten drei Jahrzehnten weithin und weitergehend als zuvor absehbar verändert, auch das Zusammenspiel von Ton und Bild ist grundsätzlich in Bewegung geraten. Davon profitieren nun gerade die dezidiert ruhig gehaltenen Klangbänder Feldmans mit ihren vertrackten rhythmischen Strukturen.
„Bei ‚Neither‘ geht es um Folgendes“, erläuterte Feldman in einem seiner letzten Interviews: „Ob wir uns nun im Schatten des Verstehens oder des Nichtverstehens befinden – letztlich stehen wir im Schatten. Wir werden nichts verstehen. Wir stehen da mit nichts weiter in der Hand als dieser heißen Kartoffel, die wir das Leben nennen.“
Der Komponist hatte sich, angeregt durch den Anruf eines römischen Opernintendanten, Mitte der 70er-Jahre bei Samuel Beckett um einen Text für ein im Theater praktikables „Werk“ bemüht. Der in Frankreich lebende irische Schriftsteller verhielt sich, gebrannt durch vorgängige schlechte Erfahrung, abwartend und ablehnend. Er willigte dann doch ein, als er sich davon überzeugt hatte, dass Feldman in seiner Antihaltung ähnlich gepolt war, und stellte 16 kurze Zeilen zu Verfügung. Die allerdings umreißen einen ganzen Kosmos: Vom „Hin und her im Schatten vom inneren zum äußeren Schatten“ bis zur vollständigen Stille in unvermindert „sachtes Licht“ gerückt.
Theologisch getönt ist wohl der Hintergrund dieser Wortfetzen. Sie tasten an das Undurchdringliche. Sie schwirren um Unaussprechliches, zielen auf den Grenzbereich zum Ewigen. Die Worte freilich, auf die nun im Großen Haus des Stuttgarter Staatstheaters der Frankfurter Amerikanist und Übersetzer Klaus Reichert mit kundigem Prolog vorbereitete, verschwinden im hohen Ton der Sängerin. Mit diesem Ton brilliert in der von Roland Kluttig präzise geleiteten Produktion Anu Komsi – und verkörpert dabei, aus dem Orchestergraben als lichte Stele hochgefahren, das wartende Subjekt, das Warten auf ein Subjekt schlechthin.
Zu Feldmans Klangskulptur präsentierte das Studio Azzurro (Milano) Videoinstallationen vom Feinsten: Anspielungsreich das Hin und Her einer weißen Maus, das Entladen von Koffern, der Vogel im Käfig, das Herbeiwinken und Abweisen von Alltagsgegenständen, das Sich-Vorwärts-Arbeiten eines Körpers unter einer Decke, die die Gestalt fortdauernd verdeckt. Die wohl geordnete Unordentlichkeit der Musik erhält durch die Bebilderung so starke und teils atemberaubend dominante Kontrapunkte, dass alles, was bei früheren „Neither“-Produktionen im Publikum für Unwillen sorgte, wie weggewischt erscheint. Ungeteilter, fast jubelnder Zuspruch für ein Kunst-Unterfangen, das nun in den Kanon des „Klassischen“ aufzurücken droht.
Gestützt auf Klänge frei nach Feldman hatte Achim Freyer einen Monat zuvor in der Bundeskunsthalle Bonn sein theatralisches Pasticcio „FR3Y3R3“ präsentiert: ein Geflecht aus Wortinseln, verkabelter Bühne und ruhig gestellten Alltagsbewegungen. Im Mittelpunkt stand ein Dialog über die Einsamkeit der Dinge in Erinnerung an Giacometti, den Meister der überlängten Figuren. Im Foyer spielte das Kammerensemble eine in die Länge gezogene Hommage à Beckett – immer neue Varianten einer Klangkeimzelle. Fünf Hutträger in den Nischen über den Türen ehrten, jeder auf seine Weise, den irisch-französischen Berufspessimisten Beckett, den Sprachdekonstrukteur, Wartekünstler und Ehrenbürger von Absurdistan. Einer mit Hermes-Flügelchen an der Kopfbedeckung, einer mit Ei auf dem Hut und einer im Rollstuhl mit Pinocchio-Nase. Auch hier war zu beobachten, wie sehr das Bilder- und Figurentheater Freyers so gut wie alle garstigen Gräben, die sich einst zwischen der Musik Feldmans und ihren kritischen europäischen Rezipienten auftaten, überbrückte.