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Archiv-Artikel

„Sanktionen bringen gar nichts“, sagt Helmut Kurth

Die Ukraine hat noch einen langen Weg zur echten Demokratie vor sich. Europa muss dazu eine Haltung beziehen

taz: Die OSCE hat die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine als Rückschritt verurteilt. Muss man das Land abschreiben?

Helmut Kurth: Dass die Wahlen nicht fair und transparent ablaufen würden, war vorhersehbar. Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch hat seine Macht für seinen Wahlkampf eingesetzt, eine freie Berichterstattung in den Medien hat es nicht gegeben. Aber es gibt auch Positives: Die Stimmabgabe ist relativ geordnet verlaufen, die Wahlbeteiligung von rund 75 Prozent ist hoch. Offenbar gibt es in der Bevölkerung ein großes Interesse, sich politisch auszudrücken.

Kann der miese Wahlkampf die Zivilgesellschaft aufrütteln?

Nein, das nicht. So etwas wie eine Zivilgesellschaft im westlichen Sinne ist in der Ukraine nicht in Sicht, dazu geht es dem Großteil der Bevölkerung viel zu schlecht. Die Leute sind damit beschäftigt, sich durchzubringen. Von ihrer Regierung erwarten sie Sicherheit, sie möchten in Ruhe ihre eigene Zukunft planen können. Da haben ihnen beide Kandidaten nicht viel zu bieten. Wiktor Janukowitsch ist der Wurmfortsatz der jetzigen Machthaber, sein Gegenkandidat Wiktor Juschtschenko die Opposition dazu. Ein eigenes politisches Angebot machen sie nicht.

Korrupt, konzeptionslos und schwer zu kalkulierenwarum sind die Ukrainer mit solchen Politikern geschlagen?

In der Ukraine hat sich eine politökonomische Elite herausgebildet, welche die großen Unternehmen, die Medien und die Regierung kontrolliert. Während das obere Fünftel der Bevölkerung jährlich um zehn Prozent reicher wird, wird das untere Fünftel um zehn Prozent ärmer. Dazu passt, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung in politischen Parteien organisiert sind. Die Kluft zwischen den Interessen der Machthaber und denen der Bevölkerung ist riesig.

Es gibt noch eine Kluft: Ministerpräsident Janukowitsch hat im Osten überwältigend gewonnen, Herausforderer Juschtschenko im Westen. Warum?

Das Gerede von der Spaltung der Ukraine hat wenig mit der Realität zu tun. Der Osten fühlt sich dem Westen überlegen, weil er reicher ist. Die prosperierende Industrie dort ist überwiegend von Russland abhängig, das weiß man dort auch. Darum hat man dort „einen von hier“ gewählt. Und der Westen hat gegen diesen Kandidaten gestimmt. Eine selbstständige und einige Ukraine ist der Bevölkerung aber überall wichtig. Übrigens gibt es auch bei Janukowitsch Skepsis gegenüber dem „großen Bruder“ Russland.

Hat er deswegen direkt vor den Wahlen mit Wladimir Putin eine Militärparade in Kiew abgenommen und den russischen Präsidenten auf drei Fernsehkanälen Fragen aus dem Volk beantworten lassen?

Wer würde nicht einen populären Präsidenten – und Putin ist in der Ukraine populär – aus dem Ausland einladen, wenn es im Wahlkampf hilft? Außenpolitisch schwankt Janukowitsch, wie die ganze Ukraine. Es gibt keine klare Vision für eine Politik gegenüber Russland, den USA oder der Europäischen Union.

Gibt es denn eine klare Vision der EU gegenüber der Ukraine?

Nein, die gibt es nicht, und das ist ein großes Problem. Nach dem 21. November stellt sich Brüssel hoffentlich die Frage, wie es weiter mit seinem riesigen Nachbarn umgehen soll, egal, wer Präsident wird. Die EU-Nachbarschaftspolitik und Kooperationsabkommen, die bisher abgeschlossen wurden, reichen bei weitem nicht aus.

Weißrussland zeigt es doch ganz deutlich: Es ist gefährlich, erst eine Laisser-faire-Politik zu betreiben und dann mit Wucht die Tür zuzuschlagen. Die dann wieder aufzumachen, ist schwierig.

Was muss die EU also tun?

Zunächst muss erst einmal ein Bewusstein dafür entstehen, dass es hier einen großen Nachbarn gibt, den man ernst nehmen muss. Vor allem Deutschland kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Wir haben ein Verständnis für Osteuropa und gleichzeitig genug Einfluss, um in Frankreich oder Spanien dafür zu werben, sich mit der Ukraine zu befassen. Ich rede hier nicht über eine EU-Mitgliedschaft, die wird auch in der Ukraine nicht ernsthaft angestrebt.

Die Bundesregierung lässt die Ukraine links liegen, um ihr gutes Verhältnis zu Russland nicht zu gefährden. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass sich diese Politik ändert?

Wer nur ein bisschen strategisch denken kann, wird die Ukraine nicht links liegen lassen. Zunächst einmal ist es in unserem Interesse, ein stabiles und friedliches Land als Nachbarn zu haben, dass nicht durch innere Konflikte zerrissen wird. Außerdem wird die Ukraine mit ihrem hohen Wirtschaftswachstum auch für die deutsche Wirtschaft immer interessanter – nicht nur für die Industrie. Dass sich etwa die Metrogruppe in Kiew ansiedelt, zeigt, dass sich im Land eine Nachfrage entwickelt.

Die USA haben der Ukraine Strafmaßnahmen angedroht, wenn die Stichwahlen am 21. November nicht fair verlaufen. Ist das der richtige Weg?

Wir sind doch nicht im Kindergarten. Die Androhung von Sanktionen gegen die Ukraine bringt überhaupt nichts. Die Staatenbildung in der Ukraine ist noch nicht abgeschlossen, der Rechtsstaat funktioniert noch nicht. Wir brauchen eine konstruktive Politik der Zusammenarbeit und vor allem einen langen Atem.

INTERVIEW: HEIKE HOLDINGHAUSEN