: Orpheus im Schnee
Die Nordischen Filmtage in Lübeck eröffnen mit „Honey Baby“, dem großartigen mythologischen Roadmovie von Mika Kaurismäki. Liebe ist eine lange Fahrt ins Ungewisse, und manchmal muss man für sie hinabstiegen bis in die Unterwelt
von Daniel Wiese
Die Weite. Vielleicht ist es das. Das Auto – es ist eins dieser ausgestorbenen, wunderschönen Citroen-Modelle, die aussehen wie riesige Sänften – fährt durch diese Weite, über endlose Landstraßen, über denen ein milchiger Himmel liegt. Manchmal kommen Städte, traurige Städte, mit sozialistischen Plattenbauten, in denen Menschen mit leeren Augen leben. Aber es ist dies ja ein trauriger Film, auch wenn er Honey Baby heißt.
Im Sommer wurde Honey Baby schon einmal in München gezeigt, jetzt eröffnen mit ihm die Nordischen Filmtage. Da passt er noch besser hin. Nicht nur wegen der Himmelsrichtung, obwohl es den Helden tatsächlich immer nördlicher treibt, hinein in die eisigen Gegenden Kareliens. Es passt auch wegen der Stimmung. So klein, so ohnmächtig sind die Menschen in Honey Baby, dass man Angst um sie bekommt. Angst, sie könnten verloren gehen.
Es liegt in der Logik eines Roadmovies, dass man auch innerlich mit denen mitfährt, die da unterwegs sind. Die Flucht ist dem Genre eingeschrieben und damit auch die Bedrohung. So kommt die Geschichte überhaupt erst in Gang, zwingt die Menschen, sich wegzubewegen. Regisseur Mika Kaurismäki, der Bruder des großen Aki, erzählt aber noch eine andere Geschichte. Es ist die von Orpheus und Eurydike, und sie handelt vom Tod und der großen Liebe, die den Tod überwindet.
Und sie handelt von der Unterwelt und ihrem Gott, der in Honey Baby ein deutscher Geschäftsmann ist, den Helmut Berger spielt, aber das nur nebenbei. Am Ende des Films, in der Trostlosigkeit eines verschneiten russischen Nordens, wird Mika Kaurismäki grandiose Bilder für diesen Hades finden, mit überlebensgroßen, steinernen Türwächtern und einer endlosen Treppe, die der Held hinabsteigen muss.
Im Film ist der Hades ein Club, in dem sich russische Mädchen verkaufen, und der Orpheus, der Tom heißt und ein erfolgloser Sänger ist, wird sich hinstellen und singen, das Lied, das nur Eurydike kennt. Er steht da und singt, und seine Stimme hallt in dem riesigen, unterirdischen Bunker, zwischen den Wänden aus Beton. An diesem Nicht-Ort entscheidet sich ihre Liebe, die sie beide verraten haben.
Haben sie diese Liebe vedient? Was muss man tun, um Liebe zu verdienen? Dass Honey Baby diese Fragen überhaupt stellt, macht, dass er herausragt aus der Schar ähnlicher Roadmovies, die alle in den unbekannten Osten führen, in die postsozialistische Tristesse. Kaurismäki berauscht sich nicht daran. Die Motive, die er auf dem Weg vom ostdeutschen Halle in den russichen Norden (und auch den Süden, das Schwarze Meer) findet, spiegeln nur die innere Auflösung der beiden Figuren, die der Zufall zusammengeführt hat oder das Schicksal.
Orpheus und Eurydike, der Sänger Tom und die geflohene Braut Natascha verlieren ihr Herz, weil sie es behalten wollen. Honey Baby macht nichts anderes, als die Auwirkungen dieses Vorgangs zu untersuchen, jenseits jener albernen Paarfindungs-Dramaturgie, die mit der Hochzeit endet. Denn sie kennen sich nicht, und sie haben eine Geschichte.
Honey Baby stellt die Frage, ob Liebe möglich ist. Das ist schon mehr als genug.
„Honey Baby“, Finnland / Deutschland / Lettland 2004, Regie: Mika Kaurismäki, mit Henry Thomas, Irina Björklund, Helmut Berger, Bela B. Felsenheimer, Kai Wiesinger. Vorstellungen: Donnerstag, 18.30 und 22 Uhr, Kino 3 und Kino 4; Freitag, 14 Uhr, Kino 4; Samstag, 19.30, Kino Hoffnung, Lübeck