zwischen den rillen : Vogelgezwitscher für das große Ganze
Von Bibern und Regenmänteln: Die Sängerin Ana da Silva und das Duo März spielen auf ihren neuen Alben digitalen Folk
Manche Künstler und Journalisten kriegen schlechte Laune, wenn jemand versucht, Musik mit einer zunächst seltsam anmutenden Wortschöpfung zu skizzieren. Mittlerweile wirken solche Reaktionen ziemlich affektiert. Da ist es erst einmal erfreulich, dass Chicks On Speed Records sich nicht scheuen, auf Ana da Silvas Album „The Lighthouse“ einen Aufkleber mit dem Schlagwort „outstanding electro-folk“ zu pappen.
Da Silva war Ende der Siebzigerjahre Gründungsmitglied von The Raincoats, und indem sie erst jetzt ihr Solodebüt veröffentlicht, verstößt sie gegen alle popkonjunkturellen Gesetze. Hätte sie es vor 20 Jahren getan – also kurz nach der Auflösung der Raincoats, oder 1996, kurz nach der zwischenzeitlichen Reunion –, wäre das normal gewesen. Jetzt ist Ana da Silva Mitte 50.
Auf The Raincoats und ihren fragilen, sanft geschrammelten Do-it-yourself-Punk haben sich in den Neunzigerjahren viele Riot-Grrls-Gruppen berufen, und Kurt Cobain nötigte einst sein Label Geffen, die Alben dieser Frauenband wiederzuveröffentlichen. Dass die Raincoats auch Chicks On Speed, die Macherinnen des Labels, bei dem nun „The Lighthouse“ erscheint, beeinflusst haben, wird deren kommende Platte zeigen. Gefragt nach Gemeinsamkeiten mit Chicks On Speed, antwortet da Silva in einem alten punkfeministischen Duktus: „Wir versuchen Frauen dahin zu bringen, dass sie glauben, sie könnten dieses Zeug auch machen.“
„The Lighthouse“ verströmt einen ähnlichen Charme wie die erste Raincoats-Platte vor einem Vierteljahrhundert, weil da Silva sich das digitale Musizieren auf ähnliche Weise angeeignet hat wie die Band damals herkömmliche Instrumente. Singt sie mit sich selbst im Chor, klingt das schlicht schön. Wer die Atmosphäre eines Antiquitätenladens – da Silva hat in einem gearbeitet, Cobain und Courtney Love haben sie seinerzeit dort aufgestöbert – in erhabene Musik übersetzt haben möchte, hält sich an das Stück „Hospital Window“, in dem da Silva ein Spinett und einen Young-Marble-Giants-haften Bass erklingen lässt. Da passt es gut, dass sie ein Stück gemeinsam mit YMG-Mitbegründer Stuart Moxham bestreitet: Die chansonartige Interpretation von Antonio Carlos Jobims „Modinha“ erschien bereits 1997 auf einem Tribute-Sampler.
Wie sich eine folkige Atmosphäre mit digitalen Mitteln erzeugen lässt – wenngleich auf eine ganz andere Art –, zeigt auch das Berlin-Frankfurter Duo März auf ihrer neue Platte „Wir sind hier“. Ohnehin waren es Ekkehard Ehlers und Albrecht Kunze, die vor zwei Jahren mit ihrem ersten Album „Love Streams“ dafür sorgten, dass der Begriff „Digital Folk“ in die Diskurs-Umlaufbahn geriet.
Während da Silvas Musik unmittelbar wirkt, ist die von März das Ergebnis monatelanger Tüftelei; während die Ex-Raincoats-Frau, abgesehen von einer Gitarre, keine herkömmlichen Instrumente benutzt, dominieren sie bei Ehlers und Kunze das Klangbild. Die Produktionsart ist zwar typisch elektronisch – „loopbasiert“, wie März selbst es formulieren –, aber geloopt werden hier unter anderem Parts, die befreundete Musiker mit Hawaiigitarre, Posaune, Banjo oder Akkordeon eingespielt haben.
Auch die Texte – deutsch und englisch, manchmal auch während des Stücks wechselnd – sind eher trackartig strukturiert, also nicht nach dem Prinzip Strophe-Refrain-Strophe. Bei März gibt es nur Refrains. Als Eckpfeiler der Platte fungieren „März im Park“ und „Oktober im Park“, zwei ähnlich strukturierte Stücke, in denen Albrecht Kunze um die Begriffe „Politik“ und „Theorie“ herumschleicht: Aus Geräusch- und Soundcollagen schält sich etwas Songartiges hervor, eingeleitet von einem quietschfidelen Banjo-Part, singt Kunze dann Sätze, die er in der Wiederholung geringfügig variiert – zum Beispiel: „Die Theorie, die jeder braucht / Entsteht im Kopf und will dann raus / Die Theorie, die jeden braucht, verlässt den Kopf und lebt sich aus.“
Dass Kunze ansonsten unter anderem Hörspiele produziert, merkt man an der Art, wie hier vermeintliche Nebengeräusche – bei „März im Park“ Vogelgezwitscher und Kindergeschrei, des Weiteren Hundebellen oder Stimmengewirr aus der Kneipe – eingearbeitet werden. Sie fügen sich sanft ein ins große Ganze. Darüber hinaus verweisen März mit ihrer Musik auf früh verstorbene deutsche Pop-Intellektuelle: bei „Love Streams“ auf Hubert Fichte und Rolf Dieter Brinkmann, dieses Mal auf Rainer Werner Fassbinder. Und da wir schon beim Namedropping sind: Es gibt auf „Wir sind hier“ opulent ausgestattete Pophymnen voller schwermütiger Euphorie – oder „melancholischem Optimismus“ (Kunze) –, die an die Beatles erinnern. Die halbwegs cluborientierten Instrumentals, in denen durchaus mal das Akkordeon die Führungsrolle übernimmt, sind nicht weniger brillant. Der originellsten Titelgebung des Jahres dürfen sich März ebenfalls rühmen: Ein Stück heißt „Biber & Enten (Plattler)“ – wobei die Bezeichnung „Plattler“ nur halb ironisch zu verstehen ist. RENÉ MARTENS
Ana da Silva: „The Lighthouse“ (COSR/Indigo); März: „Wir sind hier“ (Karaoke Kalk/Hausmusik/Indigo)