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Archiv-Artikel

Regionale Integration gegen US-Hegemonie

Venezuelas Präsident sieht in gemeinsamen lateinamerikanischen Projekten ein Gegengewicht zu Washington

PORTO ALEGRE taz ■ „Wir gehen von Gipfel zu Gipfel und unsere Völker von Abgrund zu Abgrund“, wiederholt Hugo Chávez seine Kritik an internationalen Gipfeltreffen, nachdem er seinen Frühsport an Rios Copacabana beendet hat. Dabei lässt Venezuelas Staatschef selbst keine Mammutveranstaltung aus. Jetzt prägte der Linksnationalist den Gipfel der Rio-Gruppe.

Anders als seine Kollegen aus 18 Ländern Lateinamerikas und der Karibik, die die von Brasilien angeführte UN-Stabilisierungsmission in Haiti unterstützen, wandte sich Chávez gegen eine militärische Intervention in dem Karibikstaat. Brasilien fordert hingegen eine Aufstockung des Blauhelm-Kontingents

An der Bundesuniversität von Rio hielt Chávez eine umjubelte Rede. Unter dem Motto „Lateinamerika den Lateinamerikanern“ müsse das 21. Jahrhundert das „Jahrhundert der Befreiung“ werden, beschwor er sein großes Vorbild Simón Bolívar (1783–1830). Wenn US-Präsident Bush seine Kriegspolitik wie bisher fortsetze, „könnte er den Traum von Che Guevara Wirklichkeit werden lassen, denn dann werden ein, zwei, drei Vietnam entstehen“, warnte Chávez.

Lateinamerikas Linke sieht sich im Aufwind. Vor einer Woche siegte in Uruguay erstmals das Linksbündnis „Breite Front“. Bei Kommunalwahlen gewannen Chiles Sozialdemokraten ebenso wie die Chavistas in Venezuela. Nur in Brasilien musste die Arbeiterpartei von Präsident Lula schmerzhafte Niederlagen einstecken. Eine Ursache sehen Beobachter in der Fortsetzung der Spar- und Hochzinspolitik, die das Wachstum abwürgt und den Sozialetats enge Grenzen setzt. Auch wenn sich auf dem Subkontinent mit der Propagierung neoliberaler Konzepte keine Wahlen mehr gewinnen lassen – mit einer anderen Regierungspraxis tun sich die Mitte-links-Regierungen in Brasilien, Chile und Argentinien schwer. Brasilien etwa erwirtschaftet für den Schuldendienst Jahr für Jahr einen Überschuss von 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ohne dass deswegen die Schuldenlast nennenswert abgebaut würde oder das Geld für Investitionen zur Verfügung steht.

Zwischen 1999 und 2003 betrug der Kapitalabfluss aus Lateinamerika 74 Milliarden Dollar, hat Márcio Pontual vom Forschungsinstitut Inesc berechnet. „Es ist ein Teufelskreis“, sagt der Ökonom. „Die Sozialausgaben sinken, die Infrastruktur leidet und das Einkommen der Bevölkerung sinkt – was wiederum ausländische Investoren abschreckt.“ Vor diesem Hintergrund forderte die Rio-Gruppe vom IWF flexiblere Regelungen bei der Schuldenrückzahlung, eine Initiative, die jetzt von Kolumbien und Peru ausging. Gemeinsam sollen IWF, Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank zu einer Kursänderung bewegt werden.

Parallel dazu arbeiten die Regierungen an der regionalen Integration. Für die Projekte „Petrosur“, eine Kooperation im Erdölsektor, und „TV Sur“, einen regionalen Fernsehsender, gewann Chávez bereits seinen argentinischen Kollegen Néstor Kirchner. Auch Lula signalisiert Interesse. Brasiliens Entwicklungsbank BNDES bastelt an einem regionalen Investitionsfonds. Der britische Botschafter in Brasília staunt: „Was Bolívar mit dem Schwert machen wollte, macht jetzt Brasilien mit der BNDES“.

GERHARD DILGER