Terror übers Telefon verfolgt

Während sie die Anschläge von Istanbul im Fernsehen verfolgen, bangen nahe dem Kottbusser Tor einige Türken um ihre Angehörige. Andere verurteilen Amerika

Auf dem Fernsehschirm in der Ecke des Café Kotti werden die Zahlen ständig aktualisiert: „16 Ölü, 320 Yarali“ – „16 Tote, 320 Verletzte“. Cem Saglam zieht kräftig an seiner Zigarette. Seine Tante lebt in Istanbul, nahe Taksim, dem Viertel, in dem gestern erneut zwei Anschläge verübt wurden. Sie lebt noch. Er hat mit ihr telefoniert. Seinen Cousin, der auch dort wohnt, konnte er nicht erreichen. Saglam zappt von „CNNtürk“ zu „show“ und zurück. Umherirrende Menschen. Krankenwagen. Sirenengeheul. „Die totale Katastrophe“, sagt der türkische Austauschstudent. Er sagt auch, dass er Türken kenne, Muslime, die solche Anschläge gutheißen.

Musa Erdogan will das nicht glauben: „Wer sich darüber freut, ist kein Mensch.“ Er sei wütend geworden, als er von den Explosionen erfahren habe, und schreckliche Angst habe er auch bekommen. „Das könnte genauso beim deutschen Konsulat passieren, während meine Schwester ein Visum beantragt.“ Gerade jenen türkischstämmigen Berlinern, deren Verwandte betroffen seien, drückte Bürgermeister Klaus Wowereit Mitgefühl und Solidarität aus. „In diesen schweren Zeiten steht Berlin seiner türkischen Community bei“, sagte er. Auch die CDU-Fraktion zeigte sich „fassungslos“.

Im Café Firat verkündet irgendwann der amerikanische Präsident auf einem türkischen Sender sein Bedauern. Etwa 20 Männer hören still zu. Einer fragt sich laut, „ob der Bush in Ruhe schlafen kann“. „25 Ölü – 390 Yarali“ sind auf dem Schirm verzeichnet. „Alles Unschuldige, Kinder, Frauen, Alte“, kommentiert ein Zuschauer. Er will nicht ausschließen, dass die US-Regierung direkt mit den Anschlägen zu tun hat. Saddam hätten sie schließlich auch einmal finanziert und Bin Laden. „Die wollen alleine an die Macht, dafür tun sie alles.“

Saglam hat seinen Istanbuler Cousin aus dem Café Kotti immer noch nicht erreicht. Er ist der Einzige, der das Geschehen im Fernsehen noch verfolgt. Die anderen spielen Karten und rauchen Pfeife. „Auch Europa trägt Schuld an den Anschlägen“, sagt Hasan Aba. Wäre die Türkei zügig in die EU aufgenommen worden, hätten sich die Attentäter das „mehrfach überlegt“. Die Attentäter wiederum versuchten, „die Türkei um jeden Preis daran zu hindern, Anschluss an den Westen zu finden“. Dann verabschiedet sich Aba. Teestubenruhe kehrt wieder ein.

Um die Ecke hängt in einem Café ein Plakat, das zur heutigen Demo der „Migrantischen Initiative gegen Antisemitismus“ um 18 Uhr am Heinrichplatz einlädt. Um 11 Uhr treffen sich Vertreter der Jüdischen Gemeinde, jüdischer Organisationen und der Türkischen Gemeinde in Deutschland in der Synagoge in der Oranienburger Straße zum Gedenken an die Opfer der Attentate. JOHANNES GERNERT

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