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Archiv-Artikel

Ein Ziegelstein für Dörte

Als Privatdetektiv in der DDR hatte man sich zu entscheiden zwischen Kollektiv und Individuum, manchmal gaben dabei Leberwurstbrote oder Gummibärchen aus dem Westen den Ausschlag

VON VOLKER STRÜBING

Ich war wie immer gegen 6.00 Uhr morgens aufgewacht und das war der erste Fehler des Tages gewesen. Der zweite und größere war, dass ich Bett und Haus verlassen hatte. Mit hochgeschlagenem Kragen quälte ich mich missmutig durch den Nieselregen, der von den Abgasen des nahe gelegenen Chemiekombinates klebrig wie Schnodder war.

Meine Halbschuhe versanken bei jedem Schritt im Morast, denn in dieser gottverlassenen Gegend kam niemand auf die Idee, sich um die Ausbesserung der Gehwege zu kümmern. Die Menschen, die mir entgegenkamen, wirkten wie Zombies auf dem Weg zur zweiten Beerdigung.

Vor mir lagen noch fünf Minuten Fußweg, eine Ewigkeit für jemanden, der wie ich mit seiner Stullenbüchse durch den Regen zum Kindergarten stapfte.

Die Zeit verging nicht, sie versickerte langsam im Schlamm. Drohend ragte der düstere Bau vor mir auf. Ich blieb etwa fünfzig Meter vor dem Eingang in einer Pfütze stehen und zündete mir eine Zigarette an. Zumindest hätte ich genau das getan, wenn ich damals schon geraucht hätte. Heute kann ich nicht mehr verstehen, wie ich diese Zeit ohne Zigaretten ausgehalten habe. Ich stand einfach so in der Pfütze und musterte die Umgebung. Ich kniff die Augen zusammen, runzelte die Stirn, schob das Kinn vor und guckte sehr markant. Gleich würde ich dieses Mädchen treffen. Ich dachte an ihr langes blondes Haar, an die perfekten Beine, die in knallengen, hautfarbenen Wollstrumpfhosen steckten, an ihre Sonnenbrille … Nun, eigentlich war es keine Sonnenbrille, denn die waren ja, genau wie Sonnenschein, im Osten Mangelware. Es handelte sich um eine rosafarbene Hornbrille, bei der ein Glas war mit einem Pittiplatsch-Bild zugeklebt war. Ich dachte an gestern:

Kurz nach dem Mittagsschlaf kam sie ganz langsam auf mich zu, das grelle Neonlicht spiegelte sich in ihrem frei gebliebenen Brillenglas und sie roch anregend nach Kernseife. Sie wusste, wie man mit Männern umgeht. Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. Ihre Beine waren leicht gespreizt, gerade genug um die Sinne zu verwirren, ohne wirklich anstößig zu wirken. Ich wusste nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte: auf die dicken Wollnähte an den Innenseiten ihrer Schenkel, die erst verdammt weit oben unter ihrem etwas hochgerutschten karierten Kunstfaserrock verschwanden oder auf ihren lasziv geöffneten Mund mit seinen strahlend weißen Milchzähnen.

Seit ich in den Kindergarten ging, waren wir in derselben Gruppe, und ich hatte sie schon oft zusammen mit den anderen Jungs verkloppt. Sie hatte erfahren, dass ich als Privatdetektiv tätig war, und wollte mich für den Personenschutz engagieren.

„Baby, ich bin Schnüffler, kein Schläger“, sagte ich abschätzig.

Sie wies stumm auf den blauen Fleck an ihrem Oberarm, den ich ihr gestern verpasst hatte. Gutes Argument. Sie bot mir eine Leberwurststulle als Vorschuss und einen West-Gummibär Erfolgshonorar für jeden Tag, an dem sie nicht verkloppt wurde. Ich akzeptierte. Ich war jung und brauchte die Gummibären. Mein erster Arbeitstag. Ich atmete tief durch. Und musste fürchterlich husten. Es war nicht gesund, im real existierenden Sozialismus mit seinen Braunkohlekraftwerken und Chemiekombinaten Nichtraucher zu sein. Mit einer Fluppe im Mund atmete man wenigstens durch einen Filter.

Das Gebäude war leer. Wenn es regnete, wurden alle Kinder in den Garten geschafft und über die Sturmbahn gehetzt. Zwecks Abhärtung. Nur an den wenigen Sonnentagen durften wir drin bleiben und mit den Spielzeugpanzern spielen. So war das damals. Die andern robbten schon durch den Schlamm, wobei sie laut „Immer lebe die Sonne“ singen mussten. Wie immer war Oliver Greulich als Erster mit der Sturmbahn fertig. Lässig schlenderte er zu mir herüber und wischte sich mit der Linken den Schlamm aus dem Gesicht. Ziemlich cooler Typ.

„Das wird wohl doch noch ein bisschen dauern“, grinste Olli. „Woll’n wir solange Dörte verkloppen?“

Ich überlegte. Sollte ich ein für alle Mal klarstellen, dass Dörte ab jetzt tabu ist und wir den Umgang mit dem anderen Geschlecht von jetzt an mit einer der anderen Ziegen üben müssen?

„Okay Olli, ruf die Jungs zusammen!“

Fünf Minuten später standen wir alle um Dörte herum.

Olli griff nach ihren Haaren, aber ich packte seinen Arm und hielt ihn zurück.

„Warte! Ich muss euch etwas sagen …“

Ich blickte in die strahlenden, vorfreudigen Augen meiner Freunde und fühlte mich plötzlich schäbig. Wie tief war ich nur gesunken? Sollte man in meinem Alter nicht ein glühender Idealist sein, ein Träumer, der die Welt verbessern will und an wahre Freundschaft und die klassenlose Gesellschaft glaubt? Wollte ich wirklich ein zynischer Geschäftemacher werden?

„Ich muss euch etwas sagen. Dörte hat die trockensten Leberwurststullen der Welt und niemand sollte für ein paar Gummibärchen seine Ideale verraten!“

Und dann hab ich einen Ziegelstein genommen und Dörte auf den Fuß geschmissen.