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Archiv-Artikel

Rot oder Blau – dazwischen gibt es nichts

In den USA misstrauen Republikaner wie Demokraten der Weisheit ihres Volkes. Deshalb halten sie hartnäckigan einem antiquierten Mehrheitswahlsystem fest, das Unterschiede nivelliert und damit zugleich zementiert

WASHINGTON taz ■ Amerika hat gewählt. Die Republikaner strotzen vor Kraft, die Demokraten lecken ihre Wunden. Die Erleichterung darüber, dass die Wahlen vorbei sind, ist fast größer als die Enttäuschung über den Ausgang. Was bleibt, ist außer einem wiedergewählten Präsidenten Bush ein bitterer Nachgeschmack über Wahlkampf und Wahlsystem.

Zwei Jahre tobte der teuerste und schmutzigste Wahlkampf der US-Geschichte. Zwei Jahre medialer Dauerbeschuss, bei dem der Gegner diffamiert und die Wahrheit permanent verdreht wurde. Sicher, auch die Demokraten haben Foul gespielt. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Republikaner ungleich skrupelloser waren, Fakten zu manipulieren und durch „Character Assassination“, wie es hier heißt, John Kerrys Ruf zu zerstören. Wenn Bush nun zynisch die Demokraten dazu aufruft, das Kriegsbeil zu begraben und fortan wieder wie normale Menschen miteinander umzugehen, ist dies, als ob jemand bei einem Wettlauf dem Gegner ein Bein stellt, ihm Pfefferspray ins Gesicht sprüht und nach erreichtem Sieg hinter der Ziellinie sagt: „Okay, das Rennen war zwar hart, aber wir können ja jetzt gemeinsam ein Bier trinken gehen.“

Befremdlich bleibt – neben dem stundenlangen Warten vor den Wahllokalen, der unzuverlässigen Technik, dem fehlenden Stimmennachweis bei Computer-Wahlmaschinen, den Versuchen, Minderheiten und im Ausland Lebende vom Urnengang fern zu halten, sowie der Tatsache, dass der Leiter einer Wahlbehörde in einem Bundesstaat zugleich Mitarbeiter der Bush-Kampagne sein kann – das Wahlsystem selbst. Die noch aus den Gründungszeiten der USA stammende indirekte Wahlmethode, bei der in jedem Bundesstaat Wahlmänner bestimmt werden, die dann den Präsidenten ernennen, kündet weiterhin vom Misstrauen der politischen Elite gegenüber der Weisheit des Volkes. Gepaart mit dem Mehrheitsprinzip „The winner takes all“ hat sie erst die berühmt-berüchtigten „Swing States“ geschaffen, jene Staaten, die nicht traditionell mehrheitlich für die Republikaner oder Demokraten stimmen, und von den Präsidentschaftskandidaten daher heiß umworben werden.

In die jeweils sicheren Hochburgen der beiden Lager wie Kalifornien oder Texas verirrt sich dagegen nie ein Kandidat. Dort trifft die demokratische Formel „jede Stimme zählt“ nur bedingt zu. Im Staat New York können eine Million mehr Menschen für die Demokraten stimmen, ohne dass dies einen Einfluss auf die Wahl hätte – die Anzahl der Wahlmänner bliebe gleich.

Man stelle sich einmal vor, es würde die Wahlmänner nicht geben, der Präsident würde direkt gewählt, und es gewänne wie bei den Wahlen zum Kongress, wer die meisten Stimmen erhält. Der nervenaufreibende, aberwitzige und millionenteure Kampf um „Swing States“ wäre plötzlich obsolet, da es sie einfach nicht mehr gäbe.

Besonders nach der Wahl 2000 war in den USA darüber debattiert worden, das System der Wahlmänner abzuschaffen oder wenigstens zu verändern. Colorado ließ in einem richtungsweisenden Schritt seine Bürger vergangene Woche mit darüber abstimmen, ob die neun Wahlmänner des Bundesstaates je nach Stimmenanteil der Kandidaten nach einem Proporzsystem aufgeteilt werden. Der Vorschlag scheiterte.

Das US-Wahlsystem verführt ferner dazu, Amerika in blaue und rote Bundesstaaten aufzuteilen. Diese Landkarte erzeugt ein eindimensionales Bild der amerikanischen Gesellschaft. Sie suggeriert homogene Wählergruppen, politische Anschauungen und soziale Milieus. Doch stimmten zum Beispiel in den konservativen „Red States“ Nevada und Colorado 47 Prozent für Kerry. Andererseits wählten in der soliden Demokraten-Bastion Illinois 44 Prozent republikanisch.

Das Bild von Amerika – eine konservative Mitte und liberale Ränder – ist daher stark verzerrt. Mit einer Ausnahme: Im Bundesdistrikt Washington stimmten 90 Prozent für die Demokraten und erreichten damit ein fast realsozialistisches Resultat.

MICHAEL STRECK