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Archiv-Artikel

Noch ist Deutschland nicht verloren: Die Wossis kommen

Für den Aufbau einer bürgerlichen Mitte sind Grenzgänger mit Ost-West-Erfahrung nötig. Denn sie fühlen sich nicht durch die Andersartigkeit attackiert

BERLIN taz ■ Es spielt keine Rolle mehr, ob man im Osten oder im Westen aufgewachsen ist. Um ein „Wossi“ zu sein, muss man über Lebens- und Arbeitserfahrungen in beiden Landesteilen verfügen. Nur Wossis vergleichen ostdeutsche und westdeutsche Wertvorstellungen und Mentalitäten und können gesellschaftliche Lösungen entwerfen, die im Osten und Westen funktionieren.

Bei den politischen Verteilungskämpfen der vergangenen Jahren hat es oft an streitbaren Ossis gemangelt. Nach den internen Runden, in denen Ostdeutsche meinten, die Menschen im Westen hätten es ja auch nicht leicht, und sie würden einsehen, dass man nicht anders handeln könne, als bei ihnen selbst zu kürzen, wurde den Ostdeutschen oft erst hinterher klar, dass wieder einmal eine Entscheidung getroffen worden war, die für sie nachteilig ausging. Dann erhob sich immer wütendes Geschrei, und die Ostdeutschen hatten die Neigung, eine „Ausgleichszahlung“ für den erlittenen moralischen Schaden (denn es war ja nicht „gerecht“! zugegangen) einzuklagen.

In den meisten Fällen hatten die Westdeutschen bei den Verhandlungen aber gar nicht das primäre Ziel, die Ostdeutschen über den Tisch zu ziehen, sondern vor allem ihre eigenen Interessen zu wahren. Die moralische Unanständigkeit, die man aus dem Osten glaubte ausgemacht zu haben, erwies sich als „normale“ Verhandlungsprozedur. Ostdeutsche, die mit diesen westdeutschen Kulturtechniken inzwischen vertraut sind, können auch andere Verhandlungsergebnisse erzielen, und erhalten dann auch den nötigen Respekt der westdeutschen Kollegen. Ostdeutsche, die weiterhin der Meinung sind, Opfer einer riesigen moralischen Verschwörung des Westens zu sein, flüchten sich zunehmend in eine ablehnende Haltung gegenüber der Bundesrepublik. Der Rückzug ostdeutscher Entscheidungsträger in dieses äußerst subtil kultivierte Minderwertigkeitsgefühl, das nach außen hin peinlich als scheinbare moralische Überlegenheit stilisiert wird, hemmt die gesellschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland.

Die letzten originalverpackten Klassenkämpfer auf deutschem Boden, die PDS, leben politisch immer noch vom Trennenden und kultivieren diese psychologische Bremse als Fortsetzung der DDR mit anderen Mitteln. Weltoffenheit und Modernität, der aufrechte Gang in befreiten Verhältnissen, ist keine kollektive, sondern eine individuelle Leistung. Man muss sich trauen. Das müssen alle 15 Millionen Ostdeutschen jeder und jede für sich hinkriegen. Wossis können dabei eine wichtige Brückenfunktion übernehmen, um diese Anhäufung aus Ängsten und mangelnden Informationen abzubauen.

Die DDR hatte kein Interesse an einer breiten bürgerlichen, gebildeten Mittelschicht. Die ostdeutsche CDU, die sich bisher in den südlichen ostdeutschen Bundesländern als Hort der bürgerlichen Mitte empfand, ist selbst oft genug im groben Kleinbürgertum hängen geblieben und hat die Situation noch weiter verschärft.

Wenn man den Aufbau einer breiten bürgerlichen Mitte befördern möchte, braucht man „Wossis“, die sich nicht ständig durch die Andersartigkeit der West - oder Ostdeutschen attackiert fühlen. Sie können Beispiel geben oder sich in die Debatten einmischen und neue Blickwinkel beisteuern. Die „Wossis“, die nun im Westteil leben, haben eine vergleichbare Aufgabe. Sie müssen in der Altbundesrepublik den Blick dafür öffnen, dass nicht nur die Ostdeutschen in einer Nische lebten, sondern auch die Westdeutschen, denn der eiserne Vorhang trennte zwei Seiten. Beharrungsvermögen gibt es in beiden Landesteilen, auch wenn das, worauf man beharrt, sehr unterschiedlich ist.

Um dieses Land voranzubringen, müssen die Wossis beider Teile ihre Erfahrungen einbringen – am besten vielleicht dadurch, dass sie irgendwann einmal zurückkehren in ihre ursprüngliche Heimat. ANTJE HERMENAU

Die Autorin (40) saß für die Bündnisgrünen im Haushaltsausschuss des Bundestages und geht jetzt als Fraktionschefin im Sächsischen Landtag zurück nach Dresden