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Archiv-Artikel

Van Gogh und die Menschenrechte

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Wer mit Wortenmassakriert, verstümmelt das Projekt der AufklärungEr war ein Krieger, der sich dem Diktat der Extremisten unterwarf

Haben Sie schon mal etwas mitbekommen davon, dass der Sozialismus und damit auch die Sozialdemokratie aus der Aufklärung hervorgegangen sind? So etwa vor 200 Jahren, als man jedermann das Recht einräumte, ungläubig zu sein, das heißt, nicht zu knien vor Gott, Jahwe, Allah – oder wer auch sonst dem menschlichen Aberglauben entsprungen ist? Und dass damit auch das Recht des Ungläubigen, sich über den Glauben lustig zu machen, ein Recht für alle Menschen geworden ist?“  Theo van Gogh in einem offenen Brief an die aus Marokko stammende sozialdemokratische Amsterdamer Stadträtin Fatima Elatik, Dezember 2000

Es ist wahr: Aufklärung und Französische Revolution verschafften dem Aufbruch aus selbst verschuldeter und klerikal gesteuerter Unmündigkeit freie Bahn. Sie erhoben das Recht, nicht zu glauben, de facto zum Menschenrecht. Wurde damit auch das Recht sanktioniert, sich über den Glauben anderer lustig zu machen? Gewiss, denn Polemik und Satire, auch die Schmähschrift gegen Gläubige oder Andersgläubige sind gedeckt durch das Grundrecht auf die freie und unbehinderte Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild.

Allerdings begibt sich jeder, der seine Meinung öffentlich macht, in die Arena des ideologischen Kampfes. Wenn er andere verletzt, sollte er wissen, dass er verletzt, weil er verletzen will. Und wenn er provoziert, weiß er oder sollte er wissen, dass er die Reaktionen auf seine Provokation weder berechnen noch kontrollieren kann.

In freien, liberalen und demokratischen Gesellschaften liefert sich der Publizist dem Widerwort, der Gegenpolemik, auch dem Risiko der Verhöhnung aus. Theo van Gogh hat jedoch mit seinen Filmen und Theaterinszenierungen nicht nur demokratischen Einspruch, sondern auch den Hass fanatischer Gegner provoziert, die in unseren freien Gesellschaften leben, aber deren zivile Regeln nicht anerkennen. Ein tödlicher Widerspruch.

Die Empörung über den Mord an van Gogh hat alles Recht auf ihrer Seite, aber sie allein verhilft nicht zur Klarheit über die Struktur der Konfrontation zwischen der Aufklärung und ihren Feinden – und über die prekäre Lage, in die dieser Konflikt zu gleiten droht. Die Tageszeitung Die Welt hat jetzt zwei Texte van Goghs veröffentlicht, die gewiss nicht geeignet sind, den Mörder zu entlasten und die Schuld dem Ermordeten zuzuschieben. Aber sie werfen ein scharfes Licht auf die Situation und erfordern eine Lektüre, die zwischen gerechter und selbstgerechter Empörung zu unterscheiden weiß.

Im Dezember 2000 war eine Rotterdamer Theaterinszenierung van Goghs, die Anspielungen auf das sexuelle Leben des Propheten Mohammed enthielt, nach muslimischen Protesten abgesetzt worden. Die Stadträtin Fatima Elatik wurde daraufhin mit den Worten zitiert, sie sei sich nicht sicher, ob diese Absetzung „wirklich ungerecht“ sei. Sie ließ durchblicken, die Absetzung des Stücks sei mutig gewesen, und fügte hinzu, auch das Tragen eines Kopftuchs erfordere in Westeuropa Mut.

Nun ist „Mut“ eine Vokabel, die Emotionen schürt und jeglichen Konflikt zu einem kriegerischen Szenario zuspitzt. In diesem Punkt blieb van Gogh mit seiner Replik der Kontrahentin nichts schuldig: Mut erfordere es, im fernen Marokko als Frau auf die Straße zu gehen, „um für ein weniger einseitiges, den Mann bevorzugendes Scheidungsrecht zu demonstrieren“ – ohne Kopftuch.

Konflikte dieser Art sind, da beide Seiten Recht haben und aufs Rechtbehalten aus sind, unproduktiv und starr. Die Musliminnen mit und ohne Kopftuch werden jeweils zu Argumentationsfiguren für Mut-Debatten degradiert. Das westliche Publikum applaudiert je nach Standpunkt den Mutigen auf der einen oder der anderen Seite. Den westlichen Gesellschaften stünde es hingegen gut an, etwas gegen die Angst zu tun, die für viele Musliminnen mit der Entscheidung für oder gegen das Kopftuch einhergeht. In Ländern wie Marokko funktioniert die Angst als Instrument zur drakonischen Aufrechterhaltung der allein herrschenden Moral – ebenso wie sie in den westeuropäischen Ländern als Mittel zur Disziplinierung und Anpassung an die geltenden Standards taugt.

Weltoffenheit, Liberalität, Toleranz und Achtung der Menschenrechte kennzeichnen unsere Gesellschaften nicht nur auf dem Papier ihrer Verfassungen. Sie sollen vielmehr allen Bürgern unabhängig von ihrer Herkunft ein angstfreies Leben im gesellschaftlichen Alltag ermöglichen. Wir sind allerdings weit von diesen Idealen entfernt, solange wir Mutproben veranstalten, Zensuren verteilen, die „guten“ Muslime für ihren erwünschten Mut belohnen und jenen, die in einem unerwünschten Sinne Mut an den Tag legen, mit Ausschluss drohen. Seltsamerweise hat bis heute noch kein Befürworter des Kopftuchverbots öffentlich zugegeben, dass er an die Überlegenheit der freiheitlich verfassten Gesellschaften gar nicht glaubt und das Vertrauen in die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte verloren hat. Er redet einer „wehrhaften Demokratie“ das Wort, während er dem demokratischen Projekt die Überzeugungskraft abspricht und das Argument durch Repression ersetzen will.

Auch das Kopftuchverbot ist ein Produkt der Angst. „Wofür stehen Sie?“, fragt Theo van Gogh seine Gegnerin, die sozialdemokratische Stadträtin Fatima Elatik, rhetorisch. Er weiß aber schon die Antwort: „Für Terror, Zensur und düsteres Mittelalter, so steht zu befürchten.“ Einer westlichen Zivilisation, die das Kopftuch mit dem Bekenntnis zum Terror in eins setzt, muss wahrlich die Furcht vor einem ganz neuen Beelzebub in die Glieder gefahren sein. Sie benötigt einfache Symbole, um ihr Gefühl der Bedrohung zu nähren und sich eine verkehrte Wahrnehmung anzutrainieren.

„Ich frage mich, wie lange Einheimische noch willkommen sind in Amsterdam“, schrieb van Gogh noch in einem Text vom 22. Oktober dieses Jahres: Auch er, entnervt von Morddrohungen, war gejagt von den Furien der Angst. Dem Bürgermeister von Amsterdam, Job Cohen, der nach den Anschlägen vom 11. September den Dialog mit Islamisten suchte, warf er vor, er sei ein durchtriebener Zyniker, demoralisiere die Stadt und hetze die Gruppen gegeneinander auf. „Cohen kroch vor den Gläubigen und beteuerte: ‚Ihr gehört zu uns!‘, statt zu fragen: ‚Was tut ihr eigentlich hier?‘ “ Cohen hätte also die Muslime aus Amsterdam verjagen sollen: Pogrom statt Dialog. Islamisten, so van Gogh in seinem letzten Text, sind „Zuhälter des Propheten“, „religiöse Faschisten“, „Schuhputzer Allahs“. Dem Mord ging ein Gemetzel der Worte voraus.

Eine Demokratie, die sich unter dem Druck der Angst den Reaktionsmustern ihrer Feinde anpasst, befindet sich auf dem Rückzug, nicht in der Offensive. Und Aufklärer, die das Argument im verbalen Massaker verschwinden lassen, betreiben die Verstümmelung ihres Projekts.

Theo van Gogh – und dies ist seine Tragik – wähnte sich im Krieg: in einer finalen Auseinandersetzung, die keine Alternativen, keine Verhandlungen, keine Spielräume zulässt – und unterwarf sich damit dem Diktat, das Extremisten in den westlichen Gesellschaften durchsetzen wollen.

Fotohinweis: Klaus Kreimeier lebt als Publizist und Medienwissenschaftler in Siegen