: Ein Priester hat die Wahl
Jede Einstellung ist eine ästhetische Entscheidung, auch wenn sie Verdopplungseffekte mit sich bringt: Volker Schlöndorffs „Der neunte Tag“
Noch sind „Der Untergang“ und Joseph Goebbels nicht aus den Kinosälen verschwunden, da unternimmt der Schauspieler Ulrich Matthes eine neuerliche Zeitreise in den Nationalsozialismus. Diesmal freilich nutzt er seinen stechenden Blick und seinen ausgezehrten Körper nicht, um der Figur eines NS-Täters Gestalt zu verleihen. Vielmehr spielt er ein NS-Opfer, den luxemburgischen Priester Henri Kremer. Der ist im so genannten Pfarrerblock des KZ Dachau inhaftiert, bis ihm eine Haftunterbrechung gewährt wird. Nicht ohne Hintergedanken: In Luxemburg, so wünscht es der dort stationierte Gestapo-Offizier Gebhardt (August Diehl), möge Kremer den widerspenstigen Bischof zur Kooperation mit der Besatzungsmacht bewegen.
Eben noch Goebbels, nun KZ-Häftling: Matthes’ doppelter Einsatz mag einer Laune der Gleichzeitigkeit geschuldet sein, und doch bietet er Anlass zur Skepsis: Ob Täter, ob Opfer – so gerne sich das deutsche Kino gegenwärtig an NS-Sujets versucht, so wenig Genauigkeit, so wenig gedankliche Trennschärfe legt es dabei an den Tag. Glücklicherweise hat Volker Schlöndorff, der Regisseur von „Der neunte Tag“, seinen Kollegen Hirschbiegel und Eichinger einiges voraus: Er weiß, dass er einen Spielfilm dreht, auch wenn er einem historisch überlieferten Stoff folgt (Kremers historisches Vorbild hieß Jean Bernard und war von 1941 bis 1942 im KZ Dachau. Seine Aufzeichnungen sind unter dem Titel „Pfarrerblock 25487“ erschienen). Er weiß, dass er mit jeder Einstellung eine ästhetische Entscheidung trifft, und er weiß, dass diese Entscheidung in letzter Konsequenz moralisch ist. Schlöndorff und sein Team stellen sich wesentliche Fragen: Wie zeigt man ein KZ? Wie vermittelt man die Perspektive einer Figur, die eben noch inhaftiert war und nun für begrenzte Zeit freigelassen wird? Wie nimmt diese Figur ein Stück Brot wahr, ein Glas Wasser, die Zuwendungen der Familie? „Der neunte Tag“ sucht die Antwort in der Farbreduktion, in splitterhaft montierten Großaufnahmen, im verlangsamten Bilderfluss und im Taumel der Handkamera. Der Film läuft so zwar Gefahr, den Selbstverlust des Protagonisten allzu direkt abzubilden. Doch wenn er sich hier angreifbar macht, dann spricht dies nur umso klarer dafür, dass er eine Haltung bezieht.
Als Problem indes bleibt, dass der Plot etwas behauptet, was, obwohl es im historischen Einzelfall belegt ist, unangemessen wirkt. In „Der neunte Tag“ hat der Priester Kremer die Wahl. Er kann eine Entscheidung fällen, und er kann sich dabei, wenn auch um einen hohen Preis, die moralische Integrität bewahren. Er muss nur der Versuchung widerstehen. Man braucht gar nicht so weit gehen zu behaupten, Schlöndorff springe der kompromittierten katholischen Kirche zur Seite, indem er zeige, dass diese Kirche nicht überall mit den Nazis gemeinsame Sache machte. Die Frage ist vielmehr: Wohin führt eine Dramaturgie, die die Entscheidung zu ihrem Ziel macht? Zählt es doch zu den Wesensmerkmalen des Stoffes, dass ein im KZ inhaftierter Mensch seiner Entscheidungsfreiheit beraubt wurde. CN