: Wir wollen hier raus!
Viele junge US-Amerikaner sind schockiert von der Wiederwahl George W. Bushs. Einige würden am liebsten emigrieren – auch nach Deutschland. Um von hier aus für liberalere USA zu kämpfen
AUS NEW YORKANDREA CRAWFORD
Kurz nachdem John Kerry seine Niederlage eingestanden hatte, erreichte mich die E-Mail eines Freundes, Betreff: „Evakuierungsplan“. Dieser forderte den Leser auf, sich „still und leise auf den Weg zum nächsten Flughafen zu machen, um einen Flüchtlingsflug zu organisieren“. Dies war nur die erste von vielen Mails dieser Art, die unmittelbar nach Bushs Wiederwahl zu zirkulieren begannen, allerdings war diese auch nicht nur lustig gemeint.
Zunächst hatten wir uns durch die verschiedenen Stadien der Trauer gehangelt, die von lähmendem Unglauben bis hin zur Wut reichten. Der tiefste Schmerz bestand jedoch in dem Gefühl, von den Mitbürgern im Stich gelassen und betrogen worden zu sein: Sie hatten uns zurückgelassen, und zwar im Wesentlichen ohne ein Land, das wir unser eigenes nennen könnten.
Viele von uns entschieden, dass uns keine andere Wahl übrig bliebe, als irgendwo Asyl zu beantragen. Im Internet kursierten bereits Anleitungen mit Tipps zur Emigration nach Kanada, inklusive Widerruf der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Diesen Impuls hatten besonders jene, die – wie ich – längere Zeit in Europa lebten. Mein Aufenthalt in Deutschland lag genau in der Phase dieses Wahlkampfs, daher entwickelte ich viel stärkere Hoffnungen auf ein positives Wahlergebnis. Mein Denken wurde europäischer. Ich glaubte allen Ernstes, dass die Vernunft siegen würde. Vielleicht ist dies eine Erklärung dafür, dass die Niederlage nun umso bitterer schmeckt. Wie es dazu kommen konnte, verstehen wir selbst immer noch nicht.
Warum zum Beispiel ängstigte sich eine nicht unerhebliche Zahl von Amerikanern mehr vor Bildern homosexueller Paare, die sich das Jawort gegeben haben, als vor den Bildern von Gefangenen, die von Landsleuten gefoltert wurden? In einer entscheidenden, wenn auch schmalen Mehrheit haben die Amerikaner die Prinzipien der Aufklärung außer Kraft gesetzt: Vernunft, Evidenz und Gerechtigkeit. Mit nur einer einzigen Wahl scheinen wir den menschlichen Fortschritt untergraben zu haben. Es ist die Scham, die in uns die Sehnsucht nach einer neuen Heimat weckt.
Dennoch erinnern uns Hochschuldozenten, Schriftsteller und Aktivisten daran, dass wir uns nicht entmutigen lassen dürfen, dass wir uns darum bemühen müssen, neue Wählergruppen zu erreichen und Aufklärungsarbeit bei den Unwissenden zu leisten. Schön und gut, aber es wäre mir lieber, inmitten von aufgeklärten Europäern für Gerechtigkeit zu kämpfen, eingebettet in den Kontext eines politischen Systems, in dem die Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit, des Friedens, der Gerechtigkeit, der persönlichen Freiheit und des Respekts für die Umwelt Standard sind. Das würde ich gerne tun, am besten von meinem Berliner Lieblingscafé aus, wo ich im besten Falle als Europäer durchgehe – jederzeit ein großes Kompliment für einen Amerikaner, aber nie so sehr wie in diesen Tagen.