: Lebendig begraben im Knast von Schiberghan
In der nordafghanischen Stadt sitzen tausend Taliban und Pakistani im Gefängnis. Sie wurden weder verhört noch verurteilt. Auch juristische Verfahren wurden nicht eingeleitet. Ihre Familien sind zu arm, um sie freizukaufen
SCHIBERGHAN taz ■ Eine aus rostigen Gliedern bestehende Eisenkette verschließt das beschlagene Metalltor zum Gefängnis in der nordafghanischen Stadt Schiberghan. Mit lautem Ächzen öffnet sich das Tor, und der Gefängnisdirektor Abdul Khalil tritt auf den Vorplatz. „Kommen Sie herein, schauen Sie sich alles an, wir haben nichts zu verbergen“, sagt der Kommandant. Die knapp 1.000 Gefangenen sind in drei schummrigen Trakten untergebracht, über denen in englischer Sprache angezeigt ist, um wen es sich handelt: Taliban, Pakistani oder Kommandanten.
Bärtige Inhaftierte drängen sich ans Gitter. Hinter den Männern erkennt man den staubigen Gefängnisgang, von dem die einzelnen Zellen abgehen. Bis zu 20 Männer leben in den 18 Quadratmeter großen Zellen. Ein beißend süßlicher Schweißgeruch schlägt einem entgegen. Das Gefängnis verfügt nur über eine Kapazität für 200 Inhaftierte.
Ein Gefangener drängt sich ans Gitter, die Haut hat eine dunkelbraune Farbe, das Gesicht wirkt eingefallen, eine rot bestickte Kappe bändigt die tief schwarzen Haare. Sadullah ist 28 Jahre alt und kommt aus dem pakistanischen Emran. Er sei als Freiwilliger ausgezogen, um mit den Taliban gegen die Ungläubigen zu kämpfen. „Der Mullah hat gesagt, wir müssen gehen.“
Zwei Wochen bevor die ersten US-Bomben auf Afghanistan fielen, sei er nach Kundus gekommen. Als im November 2002 die Talibanherrschaft in Nordafghanistan zusammenbrach, gehörte er zu den 5.000 Gefangenen, die sich nach Verhandlungen dem Usbekengeneral Raschid Dostum ergaben. Sadullah erzählt, wie er mit mehr als hundert Mitgefangenen in einen Container gesperrt wurde. Sie seien mehr als 24 Stunden eingeschlossen gewesen. „Wir lagen übereinander, überall das Stöhnen der Verwundeten“, erzählt Sadullah. Nach eigener Zeit habe er das Bewusstsein verloren. Als sie in Schiberghan aus dem Container geholt wurden, wären nur noch 20 Männer am Leben gewesen.
Vor eineinhalb Jahren fand der britische Journalist Jamie Doran Massengräber in der Wüste Daschti Laili, die sich wenige Kilometer südwestlich von den Gefängnismauern in Schiberghan erstreckt. Zeugen erzählten Doran, dass Kämpfer Dostums unter den Augen amerikanischer Specialforces in die Container geschossen und mehr als 1.500 Gefangene getötet hätten. Die Leichen seien später in der Wüste verscharrt worden, wo schon Gräber voriger Massaker der Taliban und an den Taliban sind. UN-Mitarbeiter verweigern jeden Kommentar zu den letzten Gräbern, geben aber zu, die Untersuchungen seien sehr zögerlich, da damalige Zeugen eingeschüchtert oder geflüchtet seien.
Dostum, dessen Palast aus Beton und buntem Glas in Nachbarschaft zum Gefängnis in Schiberghan steht, bestreitet, weder er noch seine Soldaten hätten jemals ein Massaker begangen. „Das ist bösartige Propaganda, um mich zu diskreditieren“, sagt er. Die gefundenen Massengräber seien ausgehoben worden, da während des Transports in Containern von Kundus nach Schiberghan 250 Männer ihrer Verwundung erlegen seien. „Meine Kommandanten haben ohne mein Wissen die Leichen in der Wüste beerdigt.“ Sie hätten die Gefangenen in Containern transportieren müssen, da diese auch nach ihrer Gefangennahme äußerst gefährlich gewesen wären.
Dostum versichert, dass 5.000 Gefangene auch im Gefängnis in Schiberghan ankamen. Als der Reporter das Gefängnis im Dezember 2001 erstmals besuchte, waren nur 3.500 Männer dort zusammengepfercht und nicht 5.000. Was mit den fehlenden 1.500 Männern passiert ist, erklärt der Usbekengeneral nicht.
Seit einem Jahr werden die Gefangenen weder verhört, noch sind juristische Schritte eingeleitet. Immer wieder wurden an islamischen Feiertagen einige freigelassen. Was mit den 1.000 Inhaftierten passieren soll, ist unklar. Dostum zuckt nur mit den Schultern: „Allein Kabul kann über ihr Schicksal entscheiden.“ Für Dostum stellen die Gefangenen immer noch eine Gefahr dar: „Der Attentäter auf Präsident Karsai in Kandahar kommt aus diesem Gefängnis. Wir hatten ihn freigelassen.“
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die italienische Hilfsorganisation Emergency, die im Gefängnis eine Krankenstation betreibt, bewerten die Versorgung der Gefangenen den Umständen entsprechend als ausreichend. Der italienische Arzt Pierro Berra weist jedoch auf die hohe Tuberkuloserate hin. Jeden Monat würden zwischen fünf und zehn Gefangene infiziert. Im Sommer 2002 erkrankten allein in einem Monat 243 Inhaftierte.
Für den gefangenen Sadullah sind Ungewissheit und Tatenlosigkeit das Schlimmste. Er hat über das Rote Kreuz zwar Briefe an seine Familie geschickt, bisher aber keine Antwort erhalten. Seine Familie sei arm und könne ihn weder besuchen noch sich sonst um ihn kümmern.
Ein Gefangener, im Block für Kommandanten eingesperrt, signalisiert in einem unbeobachteten Moment mit der Hand, dass man sich freikaufen könne. Wer hier sei, sei arm, raunt er durch die Gitter. Vor einem Jahr beschwerte sich ein Familienvater in Kabul. Er hatte für die Freilassung seines Sohnes bezahlt, dieser war aber kurz darauf gestorben. Der Vater wollte sein Geld zurück. MARCUS BENSMANN