: Jukebox
Nick Caves schönes Leben in Berliner Müllcontainern
Irgendwann war es dann so weit: Jeder kannte Nick Cave. Jedenfalls jeder, der was auf sich hielt, dass er nicht immer nur hörte, was eh jeder im Radio hörte. Also: Nick Cave kannte eigentlich jeder, den man kannte. Das lag womöglich auch daran, dass jeder, den man kannte, in denselben Kneipen herumhing wie er.
Die kahlen Wände in diesen Kneipen waren dunkel gestrichen, die Bestuhlung gern aus rohem Stahl geschweißt, und das Bier wurde ausschließlich in Flaschen verkauft. Wenn man nur lange genug durch Schöneberg und Kreuzberg zog, standen die Chancen gut, irgendwann den damals echt Berliner Jung an einer Theke in einer dieser Kneipen stehen zu sehen, in denen, wie wir heute wissen, Herr Lehmann bediente. Neben Cave an der Theke stand meist Blixa Bargeld, der spielte (oder besser: hielt) die Gitarre bei Caves Begleitband Bad Seeds und war damals noch nicht zum gutbürgerlichen Großkünstler geronnen. Das ließ sich schon daran erkennen, dass man mitunter dabei überraschen konnte, wie er gerade in einem Hinterhof in einen Müllcontainer kotzte. Das erzählten sich jedenfalls all die, die sich zu kennen lohnte.
So war es also kein Wunder, dass fast jeder von denen, die Nick Cave so plötzlich kannten, dann so taten, als hätten sie Nick Cave schon immer gekannt und hätten mindestens mit dem Trommler seiner ersten Band Birthday Party schon zwei, drei Nasen durchgezogen. Dabei kannten die meisten, seien wir doch mal ehrlich, nur „Kicking Against The Pricks“, eine zum Kotzen geschmackvolle Zusammenstellung von Cover-Versionen, die die Bad Seeds viel zu langsam durch den Fleischwolf drehten. Prompt bekam Cave, kaum, dass ihn nun jeder kannte, allerdings sein Abonnement auf die Wahl zum besten Sänger des Jahres in der Independent-Bibel Spex und ähnlichen Magazinen gekündigt. Was einigermaßen seltsam war, sang er doch nun herzergreifend schön, hatte aber zuvor, als er die Wahl noch regelmäßig gewann, vorzugsweise eher geschrien.
Ja, die 80er-Jahre waren schon eine komische Zeit: Das Bier war schal, Berlin eingemauert, Nick Cave stand nicht mehr so oft an der Theke, sondern lief jetzt auch mal hin und wieder im Radio. Dann zog er nach Rio de Janeiro, und die Mauer fiel. Oder war’s umgekehrt? THOMAS WINKLER
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