Noch Nachfragen zur Nachhaltigkeit

Der Begriff ist in vieler Munde, doch nicht einmal jeder dritte Deutsche weiß, was damit gemeint ist. Der Rat für nachhaltige Entwicklung sieht die Gründe dafür auch im Alltagshandeln der Regierung. Der Kanzler konnte den Eindruck nicht zerstreuen

AUS BERLINMATTHIAS URBACH

Der Titel des Kongresses klang wie ein Hilferuf: „Werte! Woran orientiert sich Deutschlands Zukunft“ nannte Volker Hauff die Jahreskonferenz des Rates für nachhaltige Entwicklung. Das Wort „Werte!“ ist in der Einladung auf ein Preisschild gedruckt.

Hauff, Sozialdemokrat und Vorsitzender dieses Rates, meint es ernst damit: „Es gibt eine Scheu davor, sich jenseits tagespolitischer Entscheidungen mit Leitbildern und Visionen zu beschäftigen.“ Ein Großteil der „wirtschaftlichen Lähmung“ Deutschlands sei darauf zurückzuführen, dass Politik und Wirtschaft den Leuten keine Antwort auf die Frage nach Werten gebe. Dieses Versäumnis, klagt Hauff in seiner Einführungsrede am Vormittag, führe zu einer „wertlosen Politik, aus der kein Vertrauen entstehen“ könne.

Auf die Frage anschließend in der Pressekonferenz, welche Werte dies seien, antwortet Hauff allerdings zurückhaltend. Die „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“, sagt er schließlich auf mehrfaches Nachfragen. Und liefert damit nur eine andere Formulierung, was das Wort von der „Nachhaltigkeit“ ausmacht, nämlich die Versöhnung von Ökologie, Sozialem und Ökonomie, sodass künftige Generationen noch gleiche Lebenschancen haben wie wir heute.

Nicht mal ein Drittel der Bevölkerung weiß Umfragen zufolge genau, was eigentlich unter „Nachhaltigkeit“ zu verstehen ist. Ein bitteres Ergebnis für ein Gremium, das sich „Rat für nachhaltige Entwicklung“ nennt, und für eine Bundesregierung, die sich eine „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ gegeben hat. Eine Strategie, die die Regierung freilich selten kommuniziert.

Und so war es schon etwas Besonderes, dass gestern auch der Kanzler erschien, um über die „Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung“ zu reden. Doch wer hoffte, der Kanzler würde nun die ersten Fortschritte der drei Jahre alten Strategie präsentieren, wurde enttäuscht. Stattdessen lieferte Gerhard Schröder einen Parforce-Ritt durch seine Politik vom Irak über EU-Verfassung bis zur Osterweiterung, von der Agenda 2010 bis zum Sparen für Innovationen. Eine Rede, die er schon öfter so ähnlich gehalten hat.

Auch die von Hauff in seiner Anmoderation noch einmal geforderten „Werte!“ bleibt der Kanzler weitgehend schuldig. Stattdessen redet er wieder von der Sicherung der Sozialsysteme oder von der Frage: „Wie schaffen wir es, alle Begabungsreserven auszuschöpfen, auch bei Immigrantenkindern?“ Keine Visionen, eher Politmanagement, wenn auch frisch präsentiert.

Damit bestätigt der Kanzler die Kritik, die Hauff und der Nachhaltigkeitsrat schon länger formulieren: Bei ihren großen, auch stark medial beworbenen Entscheidungen wie der Agenda 2010 nimmt die Regierung keinen Bezug auf „das Leitbild der Nachhaltigkeit“. Der Rat vermisst „den roten Faden der Nachhaltigkeit“ im Alltagshandeln. Nicht einmal gestern, vor dem dem Thema geneigten Fachpublikum, nutzt Schröder die Chance, diesen Eindruck zu zerstreuen.

Stattdessen klagt er über das Problem der zwei „Kluften“: Die zwischen dem „großen Ja“, wenn man „abstrakt“ über Reformpolitik spreche, und dem Nein, wenn’s „konkret wird“. Und die „Kluft zwischen gelegentlich schmerzlichen Entscheidungen“ und dem Eintreten der prognostizierten Erfolge. „Diese zeitliche Lücke bereitet unglaubliche Probleme“, offenbart Schröder. „In die kann man als Politiker fallen.“

Gerade die Überbrückung dieser Kluft aber hat Hauff wohl im Auge mit seiner Forderung nach Werten und Visionen. Nur sieht es so aus, als sei man im Kanzleramt nicht von der heilenden Wirkung von Visionen überzeugt – schon gar nicht bei so schmerzhaften Reformeinschnitten wie der Agenda 2010. Vielleicht aber ist den Strategen dort der Begriff „Nachhaltigkeit“ auch einfach zu ökologisch besetzt. Dass der Begriff nicht nur Ökologie bedeute, war im Wesentlichen schon alles, was der Kanzler in seiner Rede gestern zum Umweltschutz zu sagen hatte.

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