: Er war ein großer Feind
VON URI AVNERY
Jassir Arafat war einer aus der Generation der großen Führer, die nach dem Zweiten Weltkrieg auftraten. Als er Ende der 50er-Jahre auf der weltpolitischen Bühne auftauchte, war sein Volk nahe daran, in Vergessenheit zu geraten. Der Name Palästina war von der Landkarte gelöscht worden. Israel, Jordanien und Ägypten hatten das Land unter sich aufgeteilt. Die Welt hatte sich entschieden, dass es keine palästinensische nationale Entität gibt, dass das palästinensische Volk zu existieren aufgehört hat – falls es überhaupt jemals existiert hat.
Innerhalb der arabischen Welt wurde die „palästinensische Sache“ noch erwähnt, aber sie diente nur als Ball, der zwischen arabischen Regierungen hin und her gestoßen wurde. Als Jassir Arafat, damals ein junger Ingenieur in Kuwait, die „palästinensische Befreiungsbewegung“ gründete, deren Initialen rückwärts gelesen Fatah ergeben, meinte er zunächst Befreiung von den verschiedenen arabischen Führern, um das palästinensische Volk für sich selbst sprechen und handeln zu lassen. Das war die erste Revolution des Mannes, der während seines Lebens wenigstens drei große Revolutionen in die Wege leitete.
Es war eine gefährliche Revolution. Fatah hatte keine unabhängige Basis. Sie musste in den arabischen Ländern agieren, wo sie oft gnadenlos verfolgt wurde. Jene Jahre prägten Arafats charakteristischen Stil. Er musste zwischen den arabischen Führern manövrieren, spielte sie gegeneinander aus, benutzte Tricks, Halbwahrheiten, doppeldeutiges Gerede, wich Fallen aus und umging Hindernisse. Er wurde Weltmeister der Manipulation.
Mitte der 60er-Jahre begann Jassir Arafat mit seiner zweiten Revolution: mit dem bewaffneten Kampf gegen Israel. Die Anmaßung war fast absurd: eine Hand voll schlecht bewaffneter und deshalb nicht besonders wirksamer Guerillas gegen die mächtige israelische Armee. Aber dieser Kampf brachte die palästinensische Sache auf die Agenda der Welt. Es muss offen eingestanden werden: Ohne die mörderischen Angriffe hätte die Welt dem palästinensischen Ruf nach Freiheit keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Für Arafat war der bewaffnete Kampf nur ein Mittel – nicht mehr. Nicht Ideologie, nicht eine Sache per se. Für ihn war klar, dass dieses Instrument das palästinensische Volk stärken und so die Anerkennung der Welt gewinnen, dass es aber nie Israel besiegen würde. Der Jom-Kippur-Krieg 1973 veranlasste in seiner Zielsetzung eine neue Kehrtwende. Er sah, wie die Armeen Ägyptens und Syriens nach einem glänzenden, anfänglich überraschenden Sieg gestoppt und am Ende von der israelischen Armee besiegt wurden. Das überzeugte ihn schließlich, Israel sei nicht durch Waffengewalt zu überwältigen.
Deshalb fing Arafat unmittelbar nach diesem Krieg seine dritte Revolution an: Er entschied, die PLO müsse mit Israel ein Abkommen erreichen und sich mit einem palästinensischen Staat im Westjordanland und im Gaza-Streifen zufrieden geben. Nun war er mit einer historischen Herausforderung konfrontiert. Er musste das palästinensische Volk davon überzeugen, seinen historischen Standpunkt aufzugeben, nämlich die Legitimität des Staates Israel zu leugnen und sich nur mit den restlichen 22 Prozent des Palästinagebietes von vor 1948 zufrieden zu geben.
Daran begann er auf seine ihm eigene Weise zu arbeiten: mit Hartnäckigkeit, Ausdauer und Tricks – zwei Schritte vorwärts, einen zurück. Seit 1974 war ich Zeuge der enormen Bemühungen, die Arafat investierte, um sein Volk dahin zu bringen, diese neuen Wege mitzugehen. Nach und nach wurden sie vom palästinensischen Nationalrat, dem Parlament im Exil, akzeptiert. Zunächst durch eine Resolution, die besagt, eine palästinensische Behörde „in jedem von Israel befreiten Teil Palästinas“ aufzubauen und 1988 einen palästinensischen Staat neben Israel zu errichten. Arafats (und Israels) Tragödie bestand darin, dass, sobald er sich einer friedlichen Lösung näherte, die israelische Regierung sich davon zurückzog.
Seine Mindestforderungen waren klar und blieben seit 1974 unverändert dieselben: ein palästinensischer Staat im Westjordanland und im Gaza-Streifen, palästinensische Herrschaft über Ostjerusalem (einschließlich des Tempelberges – aber ohne die Klagemauer und das jüdische Viertel); die Wiederherstellung der Grenzen von 1967 mit der Möglichkeit von begrenztem, aber gleichwertigem Landaustausch; Evakuierung aller israelischen Siedlungen auf palästinensischem Gebiet und die Lösung des Flüchtlingsproblems in Abstimmung mit Israel. Für Palästinenser ist dies das äußerste Minimum.
Kein Befreiungskämpfer hat während des letzten halben Jahrhunderts so ungeheure Hindernisse überwinden müssen wie Arafat. Er war nicht mit einer üblichen gehassten Kolonialmacht konfrontiert oder einer verachteten rassistischen Minderheit, sondern mit einem Staat, der nach dem Holocaust entstand und von der Sympathie und den Schuldgefühlen der Welt unterstützt wurde. In jeder Hinsicht – in militärischer, wirtschaftlicher und technologischer – ist die israelische Gesellschaft der palästinensischen weit überlegen.
Als er dazu aufgerufen wurde, eine palästinensische Behörde aufzubauen, konnte er nicht wie Nelson Mandela oder Fidel Castro einen vorhandenen Staatsapparat übernehmen, sondern nur unzusammenhängende, verarmte Teile des Landes, dessen Infrastruktur durch jahrzehntelange Besatzung zerstört worden war. Er übernahm nicht eine Bevölkerung, die auf ihrem Land lebte, sondern ein Volk, das zur Hälfte aus Flüchtlingen besteht und in vielenLändern zerstreut ist. Die andere Hälfte war entlang politischen, wirtschaftlichen und religiösen Linien zerrissen. All dies, während der Befreiungskampf weiterging. Es ist Jassir Arafats historisches Verdienst, alle Teile zusammengehalten und unter diesen Bedingungen nach und nach zu seinem Ziel geführt zu haben.
Israel hat einen großen Feind verloren, der ein großer Partner und Verbündeter hätte werden können. Mit den Jahren wird seine Gestalt im historischen Gedächtnis immer mehr wachsen. Was mich betrifft: Ich achte ihn als palästinensischen Patrioten; ich bewundere ihn für seinen Mut; ich verstehe die Bedingungen, unter denen er arbeiten musste; ich sah in ihm den Partner, mit dem man eine neue Zukunft für beide Völker hätte bauen können. Ich war sein Freund. So wie Hamlet über seinen Vater sagte: „Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem; ich werde nimmer seinesgleichen sehn.“