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Archiv-Artikel

„Sehr geehrter Herr Thierse!“

Der Osten übernahm am Montag die taz. Die Zeitung der 50 Politiker, Künstler und Journalisten löste eine heftige Diskussion bei den LeserInnen aus. Die taz dokumentiert eine Auswahl der Reaktionen

betr.: Der Osten übernimmt die taz

Eine tolle Überraschung an diesem kalten Dienstagmorgen. Noch besser als seinerzeit die Feindes-taz! Jeder Beitrag ist es wert, aufmerksam gelesen zu werden. An der Tatsache, dass die taz allein in Nordrhein-Westfalen viel mehr AbonnentInnen und LeserInnen hat als in den fünf östlichen Bundesländern zusammen, würde wohl auch die permanente Übernahme durch den Osten nichts ändern. Bleibt die taz also in den nächsten 15 Jahren eine Zeitung des Westens?

UWE TÜNNERMANN, Berlin

Hey, toll, diese „Jubiläumsausgabe“, vielen Dank an alle, über deren Beiträge ich mich freuen durfte. Jedoch welch Enttäuschung: Auch in der taz finde ich keinen Beitrag zu dem zweiten in meinen Augen ebenso wichtigen Ereignis, der Reichspogromnacht 1938. Sie wird höchstens in den Radionachrichten in einem Nebensatz erwähnt. Mal abgesehen davon, dass es auch im Fernsehen keine Dokumentation oder Diskussion zu diesem Thema gibt. Aber nun auch die taz? Was soll diese „Geschichtsvergessenheit“, wenn wir uns sonst noch so viel über die NPD im Sächsischen Landtag und sonstige politische Bewegungen am ultrarechten Parteienrand beklagen? Jedoch: Ich freue mich über die taz, wollte das aber nicht ungesagt lassen. KATJA STÖSSEL, St. Augustin

Sehr verehrtes Ost-taz-Team (oder Kollektiv?), ganz besonders herzlichen Dank für die sehr gelungene tageszeitung! Die war so spannend und informativ, dass ich sie fast ganz gelesen habe. Als ehemaliger (West-)Berliner, der am frühen Abend des Mauerfalls rein zufällig im Radio BBC-Nachrichten hörte und sofort mit Freunden zum Übergang Invalidenstraße zog, um „mal zu sehen“, ob Schabowskis Mitteilung irgendetwas nach sich ziehen würde, bin ich seit 15 Jahren nahe dran am Thema und doch immer irgendwie außen vor geblieben. Am besten gefiel mir eure Wahrheit. Eine echte Spitzenleistung, an deren Biss die von mir bisher so geschätzten West-„Piranhas“ um ©TOM, Ralf Sotscheck und Co. nicht heranreichen. Selten so gelacht! SEBASTIAN BÜTTNER,Lübeck

[…] Mission gescheitert. Ich als Westler fühle mich dem Osten nach der Lektüre weder weniger fern noch näher als vorher. Ich hege keinen Hass gegen den Osten, gottlob, aber warum muss man den vermeintlichen Ost-West-Konflikt durch eine einzige Sicht der gleichen („ausschließlich Menschen mit Ost-Biografie“) Walnuss so zugrunde richten? Es ist diese Subtilität Ihrer Aussagen, die einen zur schieren Verzweiflung bringen: Der Osten kann das, der Osten will dies, der Osten hat nichts.

Mag alles stimmen, doch warum lässt man an dieser Stelle nicht auch Ost-Kommentatoren zu Wort kommen? War sich die taz etwa zu fein dafür, einen Polemiker wie Wolfgang Herles, der ein Buch zu ebenjener Thematik verfasst hat, in die Redaktion einzuladen? Sie sagen, sie sind unabhängig. Damit verbinde ich nicht nur divergierende politische Richtungen, sondern auch so etwas. GORDIAN EZAZI

betr.: „Regenbogenfische und Piranhas“ von Jens Schneider, Ost-Korrespondent der Süddeutschen

[…] Wissen Sie, Herr Schneider – die Sache mit dem Regenbogenfisch ist für mich die: Kommunikation ist eine Frage der Definition ihres Sinns. […] Wessis betreiben Kommunikation offenbar eher unter marktstrategischen Gesichtspunkten. Es geht ihnen dabei in erster Linie um Präsentation und Repräsentation in einem übersättigten Markt. Man hat sich nach Möglichkeit mittels Gestik, Mimik und Sprache im besten Licht zu zeigen und eventuelle Konkurrenten vorbeugend einzuschüchtern bzw. für sich zu gewinnen. Der Ossi hingegen ist es noch immer gewohnt, Kommunikation unter dem Blick der realsozialistischen Mangel- und Gefahrenbekämpfung zu sehen. Er legt größten Wert auf tragfähige Information und materielle oder moralische Unterstützung. Da den beiden Seiten die Präferenz des jeweils anderen nicht klar zu sein scheint, reden Ost und West häufig aneinander vorbei. Es kommt schon deshalb zu keinem Streit, weil ein vernünftiger Streit zumindest die Benutzung der gleichen Sprache voraussetzt. […] ANKE ZÖCKEL, Weimar

betr.: Titelseite „Arbeite – wer kann!“

Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass eine Verlängerung der Arbeitszeit nicht dazu beiträgt, Arbeitslosigkeit abzubauen. Eine 40-Stunden-Woche mag denjenigen, die Arbeit haben, fürs Erste den Job sichern, weil sie den Forderungen der Chefetagen nachgeben und sich selbst als „Kostenfaktor“ „billiger“ machen. Fürs Erste, wohlgemerkt. Die nächsten Verzichtsforderungen vonseiten der Arbeitgeber liegen schon in der Schublade. Neueinstellungen wird es deswegen wohl nicht geben, sondern es wird lediglich mehr von den gleichen Leuten verlangt. (Unternehmer sind daran interessiert, Kosten zu minimieren und Gewinne zu maximieren. Punkt.) Den Millionen von Leuten, die keine Jobs haben, hilft das wenig. Mit ein bisschen Glück dürfen einige vielleicht mit Billigjobs ein paar Kröten verdienen. PETER HILGELAND, Remscheid

Vor einigen Jahren wurde die Arbeitszeit verkürzt, um Arbeitsplätze zu schaffen, heute soll sie aus dem gleichen Grund verlängert werden. Logisch. Dass die Unternehmer dafür sind, muss ja nicht wundern: mehr Gewinn bei gleichen Kosten. Es wird immer davon ausgegangen, dass der zusätzliche Gewinn der Unternehmer dann später über Umwege der nationalen Wirtschaft und auch den Beschäftigten zugute kommt. Wieso glaubt das im Zeitalter der Globalisierung eigentlich noch jemand? Warum handelt die Politik nicht direkt im gesamtgesellschaftlichen Interesse? Niemand spricht mehr von der gerechteren Verteilung von Arbeit und Einkommen. […] Zweidrittelgesellschaft statt Chancengleichheit und kaum Widerspruch, auch von grüner Seite! Hat sich schon mal jemand überlegt, wie viel gesamtgesellschaftliche Perspektivlosigkeitskosten für Therapien, Arbeitslosenverwaltung, Jugendknast etc. man sparen könnte, wenn man durch Arbeitszeitverkürzung insgesamt mehr Menschen eine Teilhabe an Arbeit und Einkommen gestatten würde? Und welche Schubkraft an Motivation dies birgt? SABINE LEHMANN, Bochum

Was ist eigentlich Arbeitszeit? Der Zeitraum zwischen Ein- und Auschecken an der Stechuhr oder die Zeit, die Menschen für den Gelderwerb nutzen?

In Bayern und Baden-Württemberg sind viele Autowerker zusätzlich in der eigenen Landwirtschaft tätig. 35 Stunden im Betrieb, dann noch mal 10, 20 Stunden für Aussaat, Ernte, Reparaturen und den Ausbau der Ferienwohnung, um Gäste zu bewirten. Samstags gehört Papi dem Nebenjob. Laut Gaststättenverband wird nirgendwo anders an Feiertagen mehr gearbeitet als im Süden, wenn Millionen Touristen die Feriengebiete überschwemmen. Selbst viele überarbeitete Lehrer bemühen sich um zusätzliche Deputate an Abendschulen. Überlastete Professoren machen nebenher Consulting. In den 50er-Jahren holten viele Menschen ihre Schulabschlüsse nach – trotz 48-Stunden-Woche – und bezahlten dies auch noch aus der eigenen Lohntüte. Wohlstand kommt sehr wohl durch Mehrarbeit zustande.

Das Perfide an längerer betrieblicher Arbeitszeit ist aber, dass sie die Menschen stärker an eine einzige Erwerbsquelle bindet, wo doch die Erfahrung besagt, dass man einer solchen Abhängigkeit nicht trauen kann. KLAUS WESTERMANN, Neu-Edingen

betr.: Herbsträtsel in der Ost-taz

Besser hättet ihr das „ewig Gestrige“ vieler Ostdeutscher nicht darstellen können: Kaum übernimmt der Osten die taz, wird beim Herbsträtsel noch mal die Montagsfrage wiederholt. J. GRAFF, Hamburg

betr.: „Dieser Bart muss ab!“ von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD)

Sehr geehrter Herr Thierse,

auch bei mir ernten Sie ein wessihaftes Kopfnicken und ein „Stimmt alles“. In zwei Punkten möchte ich Ihnen jedoch widersprechen:

1. Die mangelnde inhaltliche Konsequenz bei Reformen und das Schneckentempo ihrer Umsetzung liegen nicht nur an der politischen Kaste, sondern auch am starken Einfluss der Lobbyisten, die klare Konzepte verwässern und deren Einführung dann auch noch verlangsamen.

2. Der Einfluss unterschiedlicher Interessengruppen und die von Ihnen skizzierten Auswirkungen haben auch ihr Gutes: Ein breiter Konsens bringt auch Stabilität (aber als Auswuchs auch Unbeweglichkeit oder Reformunfähigkeit). Das deutsche Sehnen nach dem starken Mann (Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder) und nach einer diktatorischen Machtfülle für diese Person wird dadurch abgemildert und relativiert. Und so wie täglich ein Problem zur „Chefsache“ hochgepusht wird, so wird im Nachgang durch den Instanzenweg genau diese Machtfülle reduziert.

Aber Ihre Grundaussagen bleiben richtig.

Ihr ANDREAS SAILER, Wehr

betr.: „Verkehrte Welt“ von Katarina Witt, zweimalige Olympiasiegerin im Eiskunstlaufen

Ich finde den Artikel von Katarina Witt erschreckend. Wer außer dem potenziellen Spitzensportler selbst sollte denn daran interessiert sein, dass dieser Weltmeistertitel und Olympiasiege sammelt? Interesse einer Gesellschaft sollte ja eben sein, dass möglichst viele Menschen körperlich aktiv sind und vor allem Breitensport betreiben. Dies dient der Gesundheit, der Zufriedenheit und dem Wohlergehen des Einzelnen und sollte sogar verstärkt staatlich unterstützt werden.

Alles, was darüber hinausgeht, sollte reine Privatsache sein und berechtigt zu keiner staatlichen Subvention, da es der Allgemeinheit rein gar nichts nützt. Hier kann die Wirtschaft – mittels Sponsoren, die die Entertainmentbranche Spitzensport als Werbemittel nützen – Abhilfe schaffen. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass die Zeiten, in denen sich autoritäre oder totalitäre Systeme in unserem Land im Glanze von Spitzensportlern sonnten, endgültig vorbei sind! FELIX TANDLER, Pontasserichio, Italien