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Archiv-Artikel

Der vage Traum der Viadrina

Eine echte europäische Universität sollte aus der Viadrina einst werden. Heute kämpft das akademische Traumprojekt mit den Mühen der Ebene. Es mangelt am Geld, an den Sprachen und am echten Austausch unter deutschen und polnischen Studenten

„In St. Gallen haben sie 80 Millionen Euro für ihre Uni. Ich wäre mit 25 schon happy“

AUS FRANKFURT AN DER ODER LIA PETRIDIS

In schwarzen Buchstaben ist „Biuro Prezydenta“ auf einem Metallschild am Zimmer 107 zu lesen. Hier residiert nicht etwa Polens Präsident Kwaśniewski, sondern eine Präsidentin. Gesine Schwan ist die Prezydenta der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder.

Gesine Schwan steht mit beiden Beinen im Leben. An diesem Tag bekleiden diese Beine kniehohe, schwarze Lederstiefel, in denen die gelernte Politikwissenschaftlerin ihr Büro durchschreitet: „Bringen Sie mir mal gerade die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter herein“, ruft sie durch die schwere Holztür.

Die Viadrina gehört zu den universitären Vorzeigeprojekten schlechthin. Hier soll eine echte europäische Uni entstehen. Hans N. Weiler, Schwans Vorgänger und Stanford-erprobte Koryphäe, hat die akademische Szene Deutschlands mit der Viadrina jahrelang in Atem gehalten. Erst gestern bewies die Viadrina mit der Eröffnung einer School of Governance ihre Innovationsfähigkeit (siehe Kasten).

Europa ist von Berlin nur eine kleine Zugreise entfernt. Der Weg dorthin führt durch ordentliche Wälder, quadratische Felder und aufgeräumte Städtchen, die Namen wie Fürstenwalde tragen. Wäre nicht Brüssel das Herz Europas, dann gewiss Frankfurt an der Oder – und Gesine Schwan seine moderne Sonnenkönigin. Mit männlichem Hofstaat. Eine Audienz ist schwer zu ergattern.

Gegen 9 Uhr an einem Freitagmorgen. Frankfurt schläft noch. Ein paar Studenten erklimmen die S-Bahn vor dem Bahnhof, auf dem Weg ins Wochenende. Oder zunächst noch an die Uni. Ausschlafen? Daria Gruszecka ist eine von 1.547 polnischen Studenten, die in diesem Wintersemester in Frankfurt studieren. Normalerweise kommt sie aus dem benachbarten Słubice mit dem Fahrrad über die Brücke. „Ich war gestern auf einer Party in Berlin. Ich bin noch müde“, sagt Daria und zieht sich die rote Wollmütze vom Kopf.

Gruszeckas Heimat war Boleslawiec, Bunzlau, nahe Görlitz. Jetzt ist es Frankfurt. Sie studiert Jura. Und? Wie ist es so? „Es ist o.k. Die Menschen sind o.k“, sagt sie. „Ich war schon an der Europaschule in Guben und habe dort Abitur gemacht“, erklärt sie. Was soll ihr das Studium an der Viadrina bringen? „Vielleicht bekomme ich einen besseren Job.“ Und das Miteinander? Sie schaut aus dem Fenster der S-Bahn. „Ich habe keine deutschen Freunde. Ich mag lieber nach Słubice zur Party gehen. Da ist es billiger.“

Gesine Schwan rückt eine platinblonde Locke zurück in ihre Turmfrisur. „Nun ja, es ist nicht so, dass Polen und Deutsche Lehrveranstaltungen besuchen“, sagt sie, „und sich danach in den Armen liegen.“

Die Präsidentin der Viadrina ist im Hauptgebäude zu finden. Das mit den mächtigen Fassaden. Das mit den gekalkten Rundbögen und den Teppichen. Da, wo Preußens Machtfülle am Eingangsportal noch fühlbar ist.

Schwan bittet nicht an den wuchtigen Schreibtisch zum Gespräch. Sie lädt in die komfortable Sitzecke. Über ihrem Kopf ein abstraktes Gemälde in Blau-Orange – und düstere Gedanken. Der Etat der Uni bereitet Sorgen. „Als ich hier 1999 antrat, versprach mir der damalige Minister, dass die Viadrina aus den Kürzungsmaßnahmen herausgenommen werden sollte.“ Danach wechselten die Minister und mit ihnen die Versprechen. Mit einem Etat von 19 Millionen „und etwas“ muss die Präsidentin nun haushalten. Damit soll sie das akademische Glanzstück zukunftstauglich machen.

Christoph Zeidler ist schon angekommen in der Zukunft. Der Präsident des Studierendenparlaments der Europa-Universität händigt eine blütenweiße, auf Strukturpappe gedruckte Visitenkarte aus. Erst danach erteilt er Auskünfte. Er lädt zum Arbeitsessen in die Mensa. „Das Problem, das sich im Augenblick ergibt, ist die Finanzierung des Sprachenzentrums“, sagt Zeidler und kaut auf seinem Backfischfilet. Gemenst wird in einem neuen, hellen Gebäude am Europaplatz. Ein Haus, das aufgrund des knappen Etats zwar in Betrieb ging, aber nun kaum mehr zu unterhalten ist.

Prezydent Zeidler studiert Kulturwissenschaften. Verpflichtend für diesen Studiengang – und eine europäische Zukunft – ist Sprachenvielfalt. „Englisch und Französisch konnte ich schon, bevor ich an die Uni kam.“ In Spanisch hat er die Mittelstufe erreicht, und Schwedisch hat er neu hinzugenommen. „Dafür muss ich jetzt bezahlen. Und zwar 40 Euro pro Semester, pro Kurs.“ Zeidler rückt den Stuhl, beugt sich leicht vor: „Wissen Sie, da müssen wir uns natürlich fragen: ‚Was bedeutet das für unsere polnischen Kommilitonen?‘“

„Ab September: Fragezeichen!“ Anna stützt sich auf den Lenker ihres Mountainbikes. Sie rollt vor und zurück. Ihr Pony reicht fast bis zum dunklen Brillengestell, das ihren zweifelnden Blick umrahmt. Bislang hat die Wirtschaftsstudentin aus Polen vom „Stipendium“ überlebt, ein Zubrot der Universität. Amtlich heißt das „Ausgleichszahlung zum Lebensunterhalt.“ 200 Euro Maximum, bemessen am Verdienst der Eltern – das war einmal. Seit September diesen Jahres bekommt Anna nichts mehr. „Im letzten Semester habe ich in Berlin gearbeitet und konnte keine Seminare wahrnehmen. Jetzt lehre ich Mathe an der Uni.“ Ein Glücksfall. Studentenpräsident Zeidler weiß: „Die Hilfskraftstellen werden gekürzt.“ Auch ihr Studien-Budget geht in Słubice drauf. Die Mieten im Westen kann sie sich schon lange nicht mehr leisten.

Gesine Schwan tut nicht heimlich, wenn es um die Probleme der Universität geht. Wenn es Ernst wird, lehnt sie sich vor, auf dem Federkernsofa, verschränkt die Arme und lächelt. „Die Perspektive ist nicht, dass es wirklich besser wird in naher Zukunft.“ Das Defizit vom Vorjahr, 440.000 Euro, konnte ausgeglichen werden. „Es ist ein ewiges Leiden.“ Das Leiden äußert sich in der unzureichenden Finanzierung des Sprachenzentrums. In gekürzten Betriebskosten der Mensa. Vor allem aber im „Drama der Kürzung von studentischen Hilfskräften mit schlimmen Konsequenzen für den wissenschaftlichen Nachwuchs“, berichtet Schwan, „da fehlen uns eine Millionen.“

Für Holger Drews, Sprecher des Wissenschaftsministeriums, „ist das alles noch Kaffeesatzleserei“. So kommentiert er die befürchteten Kürzungen des Etats für die Viadrina. Der Haushalt für 2004 werde erst im Dezember verabschiedet. Generell sei eine Erhöhung des Hochschuletats in Brandenburg um zehn Prozent geplant. Wie viel für die Viadrina rausspringt, ist deshalb noch unklar.

Manchmal träumt Schwan davon, dass Brandenburg in der Schweiz liegt. Dann sagt sie Dinge wie: „Neulich traf ich jemanden von der Wirtschaftsschule St. Gallen. Die haben da einen Etat von 80 Millionen. Ich will nur 25 Millionen. Dann wäre ich schon happy.“

Happy wäre sie auch, wenn es kein Strafverfahren gäbe, dass das Wissenschaftsministerium im Sommer gegen die Universität angestrengt hat. „Strafrechtliches hat immer so einen Geruch“, erklärt Schwan. Den möchte sie nicht in den Säulenhallen der Uni. Das Ministerium erhebt den Vorwurf, Geld aus den Semesterbeiträgen und Immatrikulationsgebühren seien nicht sofort nach Potsdam weitergeleitet worden. „Das möchte ich nicht kommentieren“, sagt Schwan.

Ihre Anspannung löst sich, wenn Schwan über die Zukunft der Viadrina spricht. Wenn sie mit den Armen ausholend den Traum von der „trinationalen Stiftungsuniversität“ zelebriert, mit deutsch-polnisch-französischer Ausrichtung. Den Traum von den Sponsoren, die kommen, wenn das Ministerium die Viadrina in die Unabhängigkeit entlässt. Die dann mit ihrem Geld die Konten auffüllen, die keine „Schattenkonten“ sind.

Gesine Schwan steht mit beiden Beinen im Leben. Manchmal müssten diese Beine nachgeben unter der symbolischen Last, die sie zu tragen hat: „Ich muss zur Zeit sehr kämpfen mit der Resignation. Aber diese Uni ist das Projekt, das ich so gut ich kann auf den Weg bringen will“, sagt Gesine Schwan – und lächelt.