: „Neukölln ist lebendig“
Dorothea Kolland
Der Bezirk Neukölln leidet seit Jahren unter einem enorm schlechten Ruf. Der 1947 in Bayern geborenen Dorothea Kolland ist das zur Genüge bekannt. Als sie 1981 als Leiterin des Neuköllner Kulturamtes antrat, galt der Bezirk als langweilig, heute wird er vielfach als Bronx von Berlin gesehen. Ob mit der kulturellen Belebung der Karl-Marx-Straße oder Salatfeldern in der Gropiusstadt – Kolland versucht durch ihre Arbeit den Bezirk lebenswert zu halten. Sie selbst aber wohnt seit 30 Jahren in Charlottenburg – weil ihr Sohn in Neukölln von Arabern angegriffen wurde.
INTERVIEW VON FELIX LEE UND UWE RADA
taz: Frau Kolland, womit beginnt man ein Gespräch über Neukölln?
Dorothea Kolland: Das kommt ganz darauf an, mit wem man redet.
Mit wem reden Sie sonst so?
Nehmen wir den positiven Fall, also jemand, der keine Vorurteile hat. Dem erzähle ich, was für ein merkwürdig spannender Bezirk Neukölln ist. Wobei das Merkwürdige und das Spannende gut zusammenpassen. Was ich versuche klar zu machen: Über Neukölln lässt sich nicht an sich reden. Man muss über verschiedene Seiten reden, die als Mosaik Neukölln ausmachen.
Müssen Sie ein Bild gerade rücken?
Ja.
Was sind die gängigen Vorurteile?
Zu Beginn meiner Arbeit vor mehr als 20 Jahren wurde gesagt: Neukölln ist unheimlich langweilig, eine Kulturwüste. Das hört man heute nur noch selten. Heute ist das gängige Bild von Neukölln das der Bronx von Berlin. Es gibt auch Leute, die vorsichtig fragen: Haben Sie keine Angst, in Neukölln zu arbeiten? Oder: Ihre Arbeit hat gar keinen Sinn, dort ist doch eh alles kaputt.
Was antworten Sie denen?
Neukölln ist doch lustig, weil andauernd das Blut fließt. Aber im Ernst: Nachdem dieser Bronx-Artikel über Neukölln im Spiegel erschienen war, wurden dort, wo ich wohne, am Savignyplatz, morgens um 9 Uhr zwei Leute erschossen. Mitten in Charlottenburg, nicht in Neukölln. Wenn schon, dann ist Gewalt ein Berliner Problem. Ich glaube aber, dass Gewalt gar nicht so ein Problem in dieser Stadt ist. Weder Berlin noch Neukölln liegen über dem Durchschnitt europäischer Großstädte. Ich versuche in solchen Gesprächen die Leute zunächst einmal von ihren Vorurteilen abzubringen. Meistens gelingt es mir auch ganz gut. Dann erzähle ich, was Neukölln so spannend macht.
Was denn zum Beispiel?
Zum Beispiel die Welten zwischen der Karl-Marx-Straße und dem Richardplatz, seiner stillen Idylle mit der Dorfschmiede und den kleinen böhmischen Bauernhäusern. Das ist eine wunderschöne Oase mitten in der Großstadt.
Brauchen Sie das auch selbst, um Abstand vom verwahrlosten Teil von Neukölln zu gewinnen?
Nein, den Abstand brauche ich nicht. Ich habe hier die Karl-Marx-Straße vor der Tür, das Architekturmuseum einer ärmlichen Großstadt des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts, mit diesen ganzen Ein-Euro-Läden, dieser bunten Mischung von Menschen und Sprachen.
Wie viele Neuköllns gibt es für Sie?
Es gibt das Neukölln am Maybachufer: Mondän und international, je nachdem zu welcher Tageszeit man kommt …
… was die meisten mit Kreuzberg in Verbindung bringen.
Das ist zu meinem großen Ärger sowieso ein Neuköllner Phänomen. Alles, was positiv an Neukölln ist, wird nach Kreuzberg verlegt. Zum Beispiel wird der Türkenmarkt Kreuzberg zugerechnet. Aber egal. Dann gibt es den Reuterplatz, großstädtische internationale Ruhe. Dann die Sonnenallee, die fast eine arabisch-türkische Geschäftsstraße sein könnte. Natürlich die Karl-Marx-Straße und den Herrmannplatz mit seinem urbanem Ambiente. Auch wenn Karstadt offiziell zu Kreuzberg zählt, ist Karstadt doch Neukölln, weil man das Kaufhaus nur von Neuköllner Seite aus sieht.
Jetzt gemeinden Sie ein.
Muss auch mal sein. Dann gibt es die städtebaulich großartige Schillerpromenade, dieses merkwürdige Neu-Britz, das moderne Industriegelände an der Kanalstraße, die Gropiusstadt, das mittelständische Bukow und Rudow.
Wir zählen schon elf verschiedene Neuköllns, warum ist Neukölln in der Wahrnehmung identisch mit dem Rollbergviertel: Kriminalität, Gewalt und Jugendgangs.
Da sollten Sie Ihre Kollegen von den Medien fragen, die den Rollbergkiez mit Neukölln gleichsetzten, im Übrigen Änderungen dort gar nicht wahrnehmen. Eine Weile kam es dort tatsächlich zu viel Gewalt und Überfällen. Seitdem ist das das prägende Bild von Neukölln. Fast 90 Prozent aller Medienberichte von Neukölln berichten von irgendwelchen Straftaten.
Wenn der Rollbergkiez nicht das Synonym von Neukölln ist, warum ziehen auch aus den anderen Kiezen so viele Menschen weg? Die Leute stimmen ja mit den Füßen ab.
Die Nordneuköllner – dieses ist ja ein Problem des Nordens – sind zwar offen und auch Fremden gegenüber freundlich gesinnt, aber es ist eben auch sehr laut und anstrengend, in Nord-Neukölln zu leben. Nord-Neukölln ist die am dichtesten besiedelte Gegend Berlins. Das war 1910 schon so, nachdem zur Jahrhundertwende die Bevölkerungszahl von Neukölln gigantisch explodiert ist. Jede freie Fläche wurde bebaut. Und auf Dauer strengt das quirlige Leben die Leute eben an. Das größte Problem für Nord-Neukölln ist aber die Situation für Kinder und Jugendliche. Trotz ungeheuerer Bemühungen der Lehrer, des Schulamtes und engagierter Eltern fehlt an Neuköllner Schulen die Chancengleichheit. Viele Schulen haben einen Anteil Schüler nichtdeutscher Herkunft von bis zu 98 Prozent. Das ist eine Situation, die für Lehrer nicht mehr zu handeln ist. Gerade weil sie oft sehr engagiert sind und sich viel einfallen lassen, sind nicht wenige mit ihrem Latein am Ende.
Und dieser Prozess ist nicht zu korrigieren?
Ich weiß zumindest nicht, wie. Vielleicht könnte man eine solche Situation anders steuern, das würde aber sehr viel Geld kosten, weil wir mit mehr Leuten kleinere Gruppen betreuen müssten. Ein wenig Hoffnung setze ich auf die Ganztagsschulen. Doch gerade in den Gegenden, die es am nötigsten haben, ist nur schwer Platz dafür zu finden.
Ist das der Grund, warum Sie selbst nicht in Neukölln wohnen, sondern in Charlottenburg?
Ich wohne dort seit 30 Jahren. Aber vor einem Jahr hatten wir vor, eine Wohnung zu kaufen. Unter anderem wurde uns eine wunderschöne Wohnung in der Warthestraße angeboten. Von der Größe und dem Preis her kostete diese Wohnung nur zwei Drittel von dem, was so etwas in Charlottenburg kosten würde. Unser 15-Jähriger kam zur Wohnungsbesichtigung nach. Doch nachdem er oben war, zupfte er mich am Ärmel und sagte: Du kannst machen, was du willst. Aber ich ziehe hier niemals hin. Ich wollte wissen, warum. Es fiel ihm schwer, das zuzugeben. Es stellte sich heraus, dass er am Hauseingang von arabischen Jugendlichen angegriffen wurde. Nicht arg, aber vom Fahrrad gezerrt. Das hat ihn total geschockt. Damit war für ihn die Sache klar. Ich sprach dann mit einer Quartierspezialistin, die mir erzählte, dass die Warthestraße fest in der Hand von zwei arabischen Großfamilien ist. Die wollen für sich sein, lassen niemand dazwischen und sind gewaltbereit. Drogen sind ständig präsent. Sie selbst würde mit Kindern nicht dorthin ziehen. Man sieht das dieser Straße gar nicht an.
Das ist nicht nur furchtbar, sondern auch eine Niederlage. Wie haben Sie die verarbeitet?
Ich war dann in einer fürchterlichen Zwickmühle. Ich versuche hier zu arbeiten, so viel ich kann, um Neukölln lebenswert zu erhalten, dass man hier gut und friedlich leben kann. Zugleich traue ich mich nicht, mit meiner Familie nach Neukölln zu ziehen. Sollte ich nun meinem Sohn nachgeben oder meiner politischen Überzeugung? Das war wirklich ein Scheißproblem. So lächerlich das klingt, aber ich habe wirklich unter dieser Entscheidung gelitten.
Haben Sie in dieser oder anderen Situationen auch ans Aufhören gedacht?
In dieser nicht, in anderen schon. Aber mein Wille durchzuhalten war stärker.
Was wollen Sie wem beweisen?
Ich will der Stadt beweisen, dass Neukölln lebendig ist, dass hier Menschen leben, in denen viel mehr steckt, als sie entfalten können. Das macht mir Spaß. Dieses Kaputtreden dieses Bezirkes – da kann ich unheimlich böse werden. Ich weiß nämlich genau, dass es hier verrückte, liebenswerte, aber vor allem ganz starke Seiten gibt. Ich wünschte, die Leute von außerhalb würden auch mal mit größerem Interesse auf Neukölln schauen.
Ihre Arbeit, das bedeutet ja auch, mit den Mitteln der Kultur und der Kunst auf die Menschen zuzugehen, sie zu ermuntern, selbst aktiv zu werden. In welchem der vielen Neuköllns sehen Sie denn am meisten kulturelles Potenzial?
Auf jeden Fall hier entlang der mittleren Karl-Marx-Straße im alten Rixdorf. Dort findet sich die Neuköllner Oper, das Heimatmuseum, das Puppentheater, der Körnerpark, die Frauenschmiede und die vielen wunderschönen Höfe, in denen Künstler ihre Ateliers haben.
Machen Sie sich damit selbst Mut oder glauben Sie auch daran?
Ich glaube schon daran. Ich habe im Laufe der Jahre auch viel Bestätigung dafür bekommen. Natürlich muss ich immer wieder prüfen, was hinhaut und was nicht. Wenn ich mir aber die urbane Entwicklung der Karl-Marx-Straße anschaue: Bevor wir hierher kamen, da war hier ab 18 Uhr alles zappenduster. Heutzutage gibt es hier abends Kinos, Restaurants und andere kulturelle Veranstaltungen. Das sind Belege dafür, dass sich im Laufe der Jahre doch sehr viel getan hat.
Welche Rolle spielen die Migranten in Ihrer Arbeit?
Eine zunehmend wichtige, und in den Menschen, die aus ungefähr 165 Nationen kommend in Neukölln leben, steckt auch eine ganz große Zukunftspotenz. Wenn wir nichts tun, erreichen wir grade mal eben den deutschen Mittelstand, zu dem inzwischen aber auch eine Reihe von Migranten gehört. Wenn wir aber die Milieus erreichen wollen, die nur wenig Zugang zu Kultur hatten, dann müssen wir zu ihnen hingehen.
Wie groß ist dann der Abstand zwischen Kultur- und Sozialarbeit?
Wenn ein Künstler die Menschen aufsucht, geht er mit ganz anderen Mitteln vor als ein Sozialarbeiter. Beides ist wichtig, weil sie mit unterschiedlichen Mitteln und Zielvorstellungen agieren. Künstler haben die Möglichkeit, stärker Sinneswahrnehmungen zu provozieren und Gewohnheiten anzukratzen.
Nennen Sie uns ein Beispiel.
Zum Beispiel hat der Künstler Helmut Dick in der Gropiusstadt ein Salatfeld angelegt, das von der Fläche so groß war wie die Außenseite des nebenstehenden Hochhauses. Über zwei Monate hat er die Salatköpfe gegossen und sie von Schnecken befreit. Die Leute im Haus regten sich zunächst furchtbar auf, wieso schon wieder so viel Geld aus dem Fenster geschmissen wird. Nachdem die Bewohner aber merkten, dass der Künstler sich nicht beirren ließ und fleißig weiter die Salatköpfe pflegte, kamen sie nach und nach mit ihm ins Gespräch. Im Laufe der Monate merkten sie, der heranwachsende Salatkopf hat etwas mit ihnen zu tun. Sie schlossen mit dem Feld Freundschaft. Wie der Salat reif war, gab es ein großes Salatfest. Diese Aktion brachte die Menschen zum Nachdenken, über ihr Hochhaus, ihr Verhältnis untereinander, über das Fremde, das ihnen vertraut war. Und das ist für mich das Schönste, was Kunst bewirken kann.
Sind Sie ein Gutmensch?
Ich fürchte, ja.