Großes Verdrängen

Die Flicks, die Nazis und die wissenschaftliche Forschung: Eine Historiker-Diskussion in der Berliner Staatsbibliothek

Flicks Handeln war von Effizienzdenken bestimmt, er kam in allen ökonomischen Kontexten klar

Im Eingangsbereich der Friedrich-Christian-Flick-Collection im Hamburger Bahnhof warnt eine Tafel, dass „die in den folgenden Räumen gezeigten Werke das moralisch-ethische Empfinden einzelner Besucher verletzen“ könnten. Doch der Hinweis ist irreführend: Anstößig sind nicht die Körpercollagen von Marlene Dumas oder Cindy Sherman, sondern die in Deutschland durch Zwangsarbeit und Arisierung zusammengerafften und unangetastet gebliebenen Vermögenswerte. Anstößig ist, wenn der Erbe eines solchen Vermögens nicht in den Zwangsarbeiterfonds einzahlt und sich als Mäzen feiern lässt. Und anstößig ist eine auf kulturelle Standortfaktoren und Public-Private-Partnership eingeschworene Politik, die dafür den Persilschein erteilt.

Man könnte die Kunst in aller Ruhe Kunst sein lassen, wenn sich die Frage der moralischen und politischen Abwicklung der NS-Zwangsarbeit erledigt hätte. Spät genug haben die Staatlichen Museen zu Berlin und die Bundeszentrale für politische Bildung auf die kritischen Stimmen zur Flick-Sammlung reagiert und unter dem Motto „Blinde oder weiße Flecken?“ ein kleines Begleitprogramm aufgelegt.

Den Anfang machte am vergangenen Freitag in der Berliner Staatsbibliothek eine mit prominenten Historikern besetzte Podiumsdiskussion. „Welches Interesse besteht noch an historischer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bzw. an einer Erforschung des Nationalsozialismus?“ – so die etwas weitschweifige Fragestellung.

Mit dem Ärger um Flick soll das Ganze nur noch im weiteren Sinne zu tun haben. Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus Dieter Lehmann, spricht von einer „Stellvertreterdebatte, die sich eingeengt hatte“. Kein Wunder, will er seine Ausstellung doch endlich aus der Kritik herausbekommen.

Die Historikerzunft soll es nun richten. Doch sie ziert sich. In Sachen Flick steht die Forschung noch ganz am Anfang. Die Archivalien des ehemaligen Firmenimperiums liegen verstreut oder sind verloren. Der Berliner Historiker Ludolf Herbst nennt die Veranstaltung „eine improvisierte Debatte“, in der die Wissenschaft „als Feuerwehr“ am Rande mitdiskutiere.

So klagt auch Horst Möller vom Münchner Institut für Zeitgeschichte: „Historiker fühlen sich oft unter Druck, sehr präsentistisch zu argumentieren.“ Ach, diese öffentlichen Debatten mit ihrer einfach gestrickten Moral! Wie schon zu Zeiten der Wehrmachtsausstellung kann Möller sich ereifern, „dass es so selbstgerecht zugeht, dass heutige Generationen wissen, wir sind prima, die vorherige war kriminell“. Man könne das Verhalten von Menschen anderer Zeiten nicht verstehen, wenn man nur die eigenen Maßstäbe anlege. Doch man versteht Möllers Argumentation sehr gut, wenn man weiß, dass sein Institut gerade einen Forschungsauftrag zur Familiengeschichte der Flicks an Land gezogen hat – mitfinanziert von Christian Friedrich Flick.

Reinhard Rürup, ehemaliger Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, stellt die Notwendigkeit solcher Flick-Forschung in Frage. Handelt es sich nicht um ein Alibiprojekt? „Worum es geht, weiß man doch jetzt schon: Flick war einer der großen Profiteure des Dritten Reiches.“

Dagegen nimmt Götz Aly, Gastprofessor am Fritz-Bauer-Institut, die gesamtgesellschaftliche Dynamik der Debatte in den Blick: „Ich glaube, dass die Aufregung um Flick selbst Teil eines großen Verdrängungsprozesses ist.“ Denn zu 70 Prozent ging der Zwangsarbeiterlohn an den deutschen Fiskus. Damit sicherte der NS-Staat, „eine öffentlich akzeptierte Gefälligkeitsdiktatur“, in Kriegszeiten die angemessene Versorgung von Zivilbevölkerung und Armee. Richtig dreckig ist es den meisten Deutschen erst nach der Kapitulation gegangen. Andererseits ist es offensichtlich, dass das Unbehagen an der ganzen Flick-Debatte unter anderem darauf beruht, dass Zwangsarbeit und Arisierung auch zur Grundlage des Wirtschaftswunders und dem heutigem Wohlstand wurden: „Wir sind Nutznießer auch unserer Vergangenheit“, bemerkt Ludolf Herbst hierzu eher beiläufig.

Der Berliner Doktorand Kim Priemel forscht seit zwei Jahren über die Geschichte des Flick-Konzerns: „Dreimal in seinem Leben hat Flick aus nicht optimalen Startbedingungen heraus ein Firmenimperium erschaffen. Sein ganzes Handeln war von Effizienzdenken bestimmt. Flick kam in allen ökonomischen Kontexten klar.“ Das kann Möller bestätigen: „Für Flick war das ein Schachspiel. Er pflegte ein lockeres Verhältnis zur Politik und versuchte sie für seine unternehmerischen Interessen zu instrumentalisieren.“ Möller denkt weiter: „Inwieweit war Flick überhaupt Nationalsozialist?“

Das schrammt nun bedenklich nah am Rand der Apologetik. Friedrich Flick als ganz zeitgemäßer, innovativer Unternehmertypus? „Sein Erfolg im Nationalsozialismus weist ihn nicht als Nationalsozialisten aus“, schlussfolgert auch Priemel.

„Offenbar war Flick ein Mann der Zukunft – ein Idealsujet für eine große Biografie“, ätzt allein Götz Aly gegenan. Fühlen wir uns also ein: PG Flick wollte bloß ganz unpolitisch reich werden. Das ist nicht ohne innere Logik zur Ausgangsfrage. Wollte nicht auch die klamme Bundeshauptstadt einfach nur mal eine schöne Kunstsammlung bekommen?

JAN-HENDRIK WULF