Zwischen den Zeilen liegt Amerika

Im ersten Band seiner Memoiren („Chronicles“) erfahren wir wenig über den Mythos, dafür aber umso mehr über den Menschen und Künstler Bob Dylan

VON MAX DAX

Sie nannten ihn „die Stimme einer Generation“, „das Gewissen Amerikas“, schließlich, als ihnen gar nichts mehr einfiel, je nach Anlass „Judas“ oder „Messias“. Inspiriert von den Figuren der Commedia dell’arte, einigten sich die meisten irgendwann auf den „Song and Dance Man“, der Nacht für Nacht vor Publikum seine Lieder spielt – und nach der letzten Zugabe stets fluchtartig jede Bühne in Richtung Tourbus verlässt. Seit über 40 Jahren veredelt der Musiker Bob Dylan seinen Auftritt als öffentliche Person – indem er die Mythen, die sich um ihn ranken, genährt von weit über 100 unautorisierten Biografien, unwidersprochen wuchern lässt. Mythen, mit denen er auch im ersten Band seiner auf drei Folgen angelegten Memoiren nicht aufräumt. Dafür aber umkreist das autobiografische Erzählen den Kern seines Schaffens: den Kunstbegriff.

„Ich habe eine gewisse Routine im Schreiben von Songs“, erklärte Bob Dylan kürzlich in einem Interview mit Newsweek: „Einen Song kann ich mit Symbolen und Metaphern füllen. Wenn du aber ein Buch wie dieses schreibst, dann hast du die Wahrheit zu erzählen.“ Die Wahrheit also. Ausgerechnet von dem Mann, der das US-amerikanische Glaubensbekenntnis, wonach einer das ist, was er von sich behauptet, seit seiner Ankunft in New York 1961 mit einer neuen Bedeutung füllte.

Tatsächlich beginnt die Schilderung Dylans persönlicher Erinnerungen vermeintlich chronologisch mit seiner ersten Zeit in der Stadt, die niemals schläft. Es ist Winter in New York, und noch hat der Sänger weder Bett noch Plattenvertrag. Akribisch und poetisch verdichtend zugleich beschreibt Dylan Erkenntnisse, Orte und Begegnungen so minutiös, dass sich die Frage nach der Echtheit der Erinnerungen aufdrängt – lässt der Mann doch selbst die Schneeflocken, die ihn auf der Straße umwirbeln, zu Markierungen einer längst vergangenen Zeit werden, zu stummen Zeugen einer Welt, die noch nicht korrumpiert war von Moderne und Massenkommunikation.

Von Beginn an greift der Erinnernde lenkend in die Rezeption ein. Bereits im ersten Kapitel, „Markin’ up the score“, erzählt Dylan von einer Begegnung mit dem PR-Mann seines Musikverlags, Billy James, dem er die Geschichte vom landstreichenden Hobo auftischt, der auf den Spuren der amerikanischen Folk-Legende Woody Guthrie mit der Gitarre in der Hand von den Großen Seen nach New York pilgerte:

„Wie bist du hierher gekommen?“, fragte er mich.

„Mit einem Güterzug.“

„Du meinst, mit einem Personenzug?“

„Nein, mit einem Güterzug.“

„Also so was wie ein Güterwaggon?“

„Ja, so was wie ein Güterwaggon. So was wie ein Güterzug.“

„Okay, ein Güterzug.“

Ich war gar nicht mit einem Güterzug angereist. Ich war mit einem viertürigen 57er Chevy Impala quer durchs Land gefahren – raus aus Chicago, als sei der Teufel hinter mir her –, mit Höchstgeschwindigkeit in einer Tour durch die verqualmten Städte, über gewundene Straßen, an grünen und schneebedeckten Feldern vorbei und weiter nach Osten über die Staatsgrenzen, Ohio, Indiana, Pennsylvania, vierundzwanzig Stunden lang.

Je tiefer man eintaucht in die durch die genaue Beschreibung fast physisch greifbaren Augenblicke in Dylans Leben, desto irrelevanter wird die Frage nach der Authentizität des Erzählten. Dylan erwähnt das Buch, das seiner eigenen Geschichte Pate gestanden hat, im letzten Kapitel: Es handelt sich um „Bound For Glory“, die wunderschön erzählte, von Sehnsucht, Leidenschaft und Verklärung durchdrungene Autobiografie von Woody Guthrie. Wie heute Dylan skizzierte Guthrie damals ein Amerika, das trotz aller geschilderten Ungerechtigkeiten paradiesische Züge trägt, wo die Zeit still zu stehen scheint.

Genau diese Verortung der Zeitlosigkeit unterstreicht auch Dylan, wenn er in fünf Kapiteln und auf knapp 300 Seiten zwischen den Zeiten und Orten springt. Was wirklich zählt, das sind der Blick, die Weltsicht und der Humor, mit dem Dylan die einfachsten Handgriffe zelebriert, kurz: das ist der Kunstbegriff, den der Sänger dem Leser anhand immer neuer Beispiele offen legt. Diesem Kunstbegriff zufolge hatte Bob Dylan von Beginn an die Mission zu erfüllen – eine antimodernistische, bewahrende, und doch eine mit dem erklärten Ziel, das Alte zu bewahren, indem er es in das Neue überführt. Das Alte, das waren die aus einem vergangenen Jahrhundert stammenden Folksongs, die mit dem Tod des Bluessängers Robert Johnson und dem Dahinsiechen von Woody Guthrie dringend eines neuen Sprachrohrs bedurften.

Mit Akribie erzählt Bob Dylan, wie sich die Metamorphose vom Interpreten fremder Songs zum Sänger eigener Lieder vollzog. Die „Chronicles“ entpuppen sich in diesem Sinne bald als Selbstporträt eines Künstlers, der die eigenen Arbeitsbedingungen zum zentralen Motiv seiner Erinnerungen erklärt hat. Ob es sich nun um die spannende Schilderung all der mühsamen Versuche handelt, einen Fuß in die Tür führender Folk-Clubs wie The Gaslight oder Gerde’s Folk City zu bekommen, oder um die Entstehungsgeschichte des eher abseitigen Albums „New Morning“ – immer ist es die Arbeit am Wort- und Musikwerk, die die Schritte des Sängers lenkt, als wolle er sagen: Wartet ab, was ich erst zu den wirklich prägenden Momenten niederschreiben werde; dem legendären Auftritt 1965 in Newport, „when Dylan went electric“, und der folgenden, gleißenden Phase der Kreativität, als er innerhalb von 18 Monaten mit drei Alben und einer amphetamingetriebenen Welttournee die Geschichte der Rockmusik umschrieb; zu dem außergewöhnlichen Schritt, 1979 als Jude zum Christentum zu konvertieren; dem besoffenen Schlussakkord, den er 1985 vor Milliardenpublikum mit seiner unsäglichen Performance unter das „Live Aid“-Konzert setzte, und und und.

Dass sich der Autor selbst als Künstler von Weltbedeutung sieht, lässt er noch in den kleinsten Nebensätzen durchblicken. Dylan schweift ab in Exkurse, Monologe, Nebensächliches, genaueste Beschreibungen vermeintlich unwichtiger Randbeobachtungen: Am Klavier verbrachte Nachmittage mit Thelonius Monk, der Besuch einer Aufführung der Dreigroschenoper am Broadway und gemeinsame Auftritte mit weitgehend vergessenen Country-Stars wie Karen Dalton oder die Erinnerung an einen Fernsehauftritt von Joe Tex werden mit größerer Genauigkeit geschildert als der berühmte Motorradunfall auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit, der ihn 1966 plötzlich aus dem Karussell des Ruhms schleuderte. Nicht die Erwartungen des Publikums, sondern das Ertasten der eigenen Vergangenheit steht für Dylan im Vordergrund. So schildert er am Beispiel der Aufnahmesessions zum Album „Oh Mercy“ von 1988, wie er den Glauben an sich und die Musik verloren hatte – und wie sich er diesen Glauben später wiedergewinnen konnte. Geholfen habe ihm dabei die Erinnerung an eine einfache, aber längst in Vergessenheit geratene Gitarrenspieltechnik, die ihm einst von dem Gitarristen Lonnie Mac gelehrt wurde: Dieses von Kritikern hilflos als „kubistisch“ bezeichnete Gitarrenspiel habe ihm geholfen, sich trotz der ermüdenden Wiederholungen bestimmter Songs immer wieder mental zu motivieren.

Die so genannte Never Ending Tour ist aus dieser einsamen Auseinandersetzung mit sich selbst, dem Vortrag und dem Gitarrenspiel hervorgegangen, jene seit 1988 (und somit seit sechzehn Jahren voranschreitende) ununterbrochene Welttournee, die Dylan als Hirten seines eigenen Songkatalogs unablässig neue Städte und neue Bühnen hat besuchen lassen – und mit der erfolgreichen Eroberung eines neuen, um Generationen jüngeren Publikums noch lange nicht ihr Ende gefunden hat.

Larry Charles, der Regisseur des diesen Sommer als DVD erschienenen Dylan-Films „Masked & Anonymous“, stellte eine interessante These in den Raum: Der zufolge seien „Masked & Anonymous“, Dylans letztes Studioalbum „Love & Theft“, weite Teile der „Never Ending Tour“ sowie die Arbeit an den „Chronicles“ einer neuen Phase im Leben des Künstlers zuzuordnen – ähnlich der selbstreferenziellen letzten Schaffensperiode Pablo Picassos, in der dieser das eigene Werk noch einmal durchmessen hat, statt ein weiteres Mal nach neuen, noch einzureißenden Mauern zu suchen.

Der rote Faden dieser späten Phase Dylans scheint neben der Collage und der Selbstreferenz das Zulassen eines gewissen Einblicks in die eigene Arbeitsweise (und somit einer Entzauberung von Mythen) zu sein. Doch genau so, wie die erste Folge der „Chronicles“ ebendort endet, wo Dylan seine Memoiren 300 Seiten zuvor hatte beginnen lassen, so steigern die in rhythmischer Prosa geschriebenen Erinnerungen letzten Endes den eigenen Mythos noch: weil die kraftvolle Sprache Dylans wie aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint. Aus einem anderen, „unheimlichen Amerika“, wie es der von Dylan geschätzte Musikkritiker Greil Marcus einmal treffend formuliert hat. Parallel zu der von Kathrin Passig und Gerhard Henschel angenehm übersetzten deutschen Ausgabe erscheinen die gesammelten Songtexte Bob Dylans in deutscher Übersetzung – und lösen die ungelenke Nachdichtung von Carl Weissner ab.

So ist das mit den Mythen und dem Stricken derselben: Sie sind mindestens ebenso interessant wie die Wahrheit, die sie zu vernebeln trachten – wenn nicht sogar interessanter, weil sie die Suche nach dem Sinn auf diese Weise zum eigentlichen Ziel erklären.