: Die Finalistin
AUS BERLIN FRANK KETTERER
Opfer! Karen König mag das Wort nicht, schon gar nicht, wenn ihre eigene Lebensgeschichte damit beschrieben werden soll. „Opfer klingt wehrlos“, sagt die große blonde Frau mit ungewöhnlich tiefer, aber doch weicher Stimme. Sie schüttelt den Kopf dabei, fast unmerklich und wagt den Versuch einer Erklärung: „Damals waren wir Opfer. Heute aber bin ich nicht mehr wehrlos“, sagt sie dann.
Damals. Soll heißen: Als es die DDR noch gab und ihr als Kind schon Dopingmittel verabreicht wurden, damit sie noch schneller würde schwimmen und noch mehr Medaillen würde gewinnen können. Damals, als Teenager in der Sportschule, konnte sie sich nicht gegen die Einnahme der Pillen wehren, die für die Kinder in Plastikbechern bereitstanden, sie wusste ja noch nicht einmal, dass es sich dabei um Doping handelte, Trainer und Ärzte sprachen von Vitaminen. Heute heißt für Karen König: jetzt, hier, 14 Jahre nach der Wende, in einer Zeit, in der längst bekannt ist, welche Nachwirkungen die Pillen haben und dass das System beileibe nicht nur Weltmeister und Olympiasieger in Serie produziert hat, sondern auch Opfer.
Karen König sagt: „Ich würde mich lieber als Dopinggeschädigte bezeichnen.“ Sie will nicht mehr wehrlos sein. Letztlich kommt es auf die Begrifflichkeit ohnehin nicht an, nicht wirklich. Sondern nur darauf, dass und wie die 34-Jährige sich heute wehren kann: Als erste DDR-Doping-Geschädigte hat Karen König Klage auf Schadenersatz gegen das wiedervereinigte Nationale Olympische Komitee für Deutschland gestellt. Das Landgericht Frankfurt am Main wird am heutigen Freitag bekannt geben, ob die Klage zugelassen wird und der Fall somit in die Beweisaufnahme gehen kann. Für Karen König geht es dann um 10.225 Euro. Für das NOK geht es um ein Vielfaches. Denn sollte das Gericht in der Sache König versus NOK zu Gunsten der Klägerin entscheiden, könnte das eine Lawine auslösen. Schon jetzt hat der Verein für Doping-Opfer-Hilfe für diesen Fall eine Sammelklage von 137 weiteren Dopinggeschädigten angekündigt, die vom finanziell ohnehin angeschlagenen NOK zu zahlende Schadensersatzsumme könnte sich leicht auf über eine Million erhöhen.
Es gehe ihr aber auch nicht um Geld, sagt Karen König, zumindest nicht vordergründig. Es gehe darum, dass das gesamtdeutsche NOK endlich einsieht, einsehen muss, dass es sich nicht länger aus der Verantwortung stehlen kann für die verbrecherischen Taten seiner jüngsten Teilgeschichte. Das Vermögen des DDR-NOK, rund 5,4 Millionen Mark, hat das wiedervereinigte NOK nach der Wende freudig übernommen, nun soll es auch Verantwortung für die Dopingschäden übernehmen. Bei Karen König sind das in erster Linie ihre tiefe Stimme und Depressionen, hevorgerufen vor allem durch eine Frage, die tief in ihr steckt und immer wieder bohrt: „Wie wäre mein Leben ohne Doping verlaufen? Wer wäre ich ohne Doping?“ Die Antwort wird Karen König nie finden, es gibt keine, weil es sie, ihr Leben, nicht mehr gibt ohne Doping. Das Verbrechen, das an ihr als Kind begangen wurde, kann keiner rückgängig machen, und selbst heute, als erwachsene Frau, weiß sie nicht, wie es sich noch auswirken wird auf sie und ihre Gesundheit – und ob im Laufe der Jahre noch mehr hinzukommt, Schlimmeres, so wie bei anderen Opfern. Unter Krebs leiden auffällig viele, manche unter Unterleibserkrankungen, andere wiederum haben Fehlgeburten hinter sich oder Kinder mit Missbildungen zur Welt gebracht. Karen Königs Kinder sind 18 Monate und zehn Wochen alt und gesund. „Darüber bin ich nur glücklich“, sagt sie.
Es geht in dem Fall wahrlich um mehr als um Geld. Und vielleicht, wahrscheinlich, auch um mehr als Schuld und Verantwortung. Am Ende geht es um ein Stück Lebensgeschichte, um ihre Bewältigung – und um Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit“, sagt Karen König, und dieses Mal ist es deutlich zu sehen, wie sie den Kopf schüttelt, „das hört sich so groß an und etwas abgegriffen.“ So groß will sie es nicht. Vielleicht auch nicht, weil der Prozess nicht ihr tägliches Leben in Beschlag nimmt, sondern „nur ein Teil davon“ ist, ein eher kleiner Teil. Und weil sie der Öffentlichkeit keine Jeanne d’Arc der Dopingopfer geben möchte.
Natürlich hat sie durch ihre Klage einige Prominenz erreicht, das war nicht zu vermeiden, sie hat das im Vorfeld gewusst. Aber sie hat das Beste daraus zu machen versucht: Zwar wird ihr Name mit dem Prozess in Verbindung gebracht, mehr aber auch nicht. Sie tingelt mit dem Thema nicht durch Talkshows, es gibt kaum aktuelle Fotos von ihr, im Telefonbuch steht sie schon gar nicht. Es gibt in der Öffentlichkeit nur ihren Namen – aber kein Gesicht dazu. Das schützt sie und ihre Familie vor Anfeindungen, die bei Dopingopfern nicht selten sind, denn manche Sportbegeisterte wollen sich ihren Stolz auf die Medaillen nicht wegnehmen lassen. Sie kümmert sich wenig um die Resonanz, die ihre Klage hervorgerufen hat. „Ich habe mich nie groß darum geschert, was andere von meinem Handeln denken“, sagt sie. „Ich habe immer das getan, wovon ich gedacht habe, dass es wichtig für mich ist.“ Jetzt ist es wichtig für sie, dass sie sich wehren kann.
Karen König spricht nicht von Gerechtigkeit. Sie sagt: „Es geht um eine Art Mündigsein“, und sie will das erklären: „In einer Demokratie hat Klein die Möglichkeit gegen Groß vorzugehen. Im Osten war das nicht der Fall.“ Damals musste sie das tun, was der Staat von ihr wollte. Der Staat wollte Sport von Karen König.
Mit zehn wird sie bei einer Sichtung ausgewählt für die Sportschule des TSC Berlin. Was Kind und Mutter anfangs noch als Auszeichnung empfinden, ist bald nur noch Quälerei. Der Tag beginnt morgens um sieben und er endet abends um acht, der Rest ist voll gepackt mit Schule und Training. Mit zwölf bekommt sie zum ersten Mal die Pillen, so jedenfalls steht es in den später gefundenen Aufzeichnungen der Trainer. „Die Kindheit ist da ziemlich schnell zu Ende“, sagt Karen König heute, der Rest ist „ziemlich extrem und unmenschlich hart“.
Mit elf gewinnt sie bei der Spartakiade, vier Jahre später, 1984, wird sie Jugend-Europameisterin und qualifiziert sich für die 4x100-m-Freistilstaffel der DDR. Die holt bei der Gegenveranstaltung zu den Boykottspielen von Los Angeles in Moskau Gold – in Weltrekordzeit. 15 ist Karen König da. Ein Jahr später wird sie in Sofia auch noch Staffel-Europameisterin, dann, nach der Sommerpause, will sie nicht mehr schwimmen.
„Ich habe keinen Sinn mehr darin gesehen. Ich wollte nicht meine ganze Jugend aufgeben“, sagt sie. Im Rückblick erinnert sie sich an die Einsamkeit, in der sie lebte und die geprägt war von Einzeltraining und Einzelunterricht. Sie hatte keine Freunde außerhalb dieses Schwimmkosmos. „Mir kam das am Ende nur noch absurd vor“, sagt sie. Sie wollte das einfach nicht mehr.
Für eine 16-Jährige, die immer nur Training kannte, Training, Training und Training, ist das eine erstaunlich erwachsene Entscheidung. Für die Trainer und Funktionäre sind es entgangene Medaillen. Medaillen aber lässt man sich nicht entgehen, damals. Es gibt Überredungsversuche, schließlich Druck. Entweder weiter schwimmen für die DDR – oder kein Abitur. Den Raum, in dem man Karen König das eröffnet, verlässt sie weinend, schließlich geht es um die Möglichkeit, zu studieren, um die Zukunft. Sie gibt nicht nach. Als es den Kluboberen zu bunt wird, fordern sie eine schriftliche Erklärung für die Sportverweigerung, danach drehen sie den Spieß um und werfen Karen König raus. Wenigstens ihr Abitur kann sie auf diese Weise machen, Probleme bekommt sie erst danach wieder. Den angestrebten Studienplatz für Germanistik an der Berliner Humboldt-Universität jedenfalls erhält Karen König nicht, obwohl ihre Noten gut genug sind. Sie habe „hier nichts zu suchen“, lässt sie ein Studienleiter noch 1989 wissen. Erst zwei Jahre später, die DDR ist inzwischen Vergangenheit geworden, kann sie ihren Berufswunsch endlich angehen: An der FU in West-Berlin schreibt sich die 22-Jährige für Literaturwissenschaften ein.
Zurzeit promoviert sie über „den Begriff des Eros in der deutschen und französischen Literatur des 20.Jahrhunderts anhand des Werks von Paul Nizon“. „Ich war glücklich, mit dem ganzen System nichts mehr zu tun zu haben“, erinnert sich Karen König. „Mit dem Studium im Westen war für mich auch meine Sportvergangenheit vorbei.“
Manchmal wird ein Mensch eingeholt von seiner Vergangenheit. Bei Karen König ist das zehn Jahre später der Fall, im Vorfeld zu den Berliner Dopingprozessen. Die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) meldet sich bei König, ihr Name ist aktenkundig – als Dopingopfer, die Verantwortlichen des DDR-Plandopings hatten in ihren Akten ja alles notiert, schon um die Effekte besser kontrollieren zu können. Eine Ahnung, dass auch sie als Kind zwangsgedopt worden war, hat Karen König schon zuvor bei der Lektüre des Doping-Aufklärungswerkes der Heidelbergerin Brigitte Berendonk, Ehefrau des renomierten Dopingjägers Werner Franke, beschlichen. Die endgültige Gewissheit, dass auch sie ein Opfer ist, liefert ihr die ZERV. Bei den folgenden Prozessen, bei denen die Berlinerin zusammen mit anderen Dopingopfern als Nebenklägerin auftritt, werden zunächst ehemalige Trainer und Ärzte zu Geldstrafen verurteilt, später dann auch noch Manfred Ewald, der Präsident des Deutschen Turn- und Sportverbandes der DDR, sowie der Sportarzt Manfred Höppner, die eigentlichen Drahtzieher, zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. „Die Angeklagten waren für ein System verantwortlich, das eine Vielzahl von jungen Menschen an der Gesundheit schädigte“, stellte damals der Leitende Oberstaatsanwalt Klaus-Henrich Debes fest. Und endlich wurden nicht mehr nur die Kleinen gehängt. Karen König sagt: „Ich empfand es als Wunder, was da zusammengetragen worden war und dass es überhaupt zum Prozess gegen Ewald kam. Und ich war froh, dass ich nicht mehr Opfer war, sondern mich als erwachsener Mensch wehren konnte. Ich war plötzlich gleichrangig.“
Dass sie nun das gesamtdeutsche NOK verklagt hat, ist für sie aus alledem nur die „logische Folge“, der letzte Schritt, das Finale. Es geht ihr nicht darum, Vorkämpferin zu sein für die anderen Geschädigten. „Nicht Namen sind wichtig, sondern die Sache“, sagt sie jedenfalls. Und für die Sache schreckt sie auch nicht davor zurück, eine mächtige Organisation wie das NOK zu verklagen, was für eine einzelne Person kein leichter Schritt ist, zumal sie den Kampf ja verlieren kann und damit die Möglichkeit, das NOK zur Rechenschaft zu ziehen, jedenfalls fürs Erste. Vielleicht aber geben ihr die Richter Recht. „Dann“, sagt Karen König, „ist es endlich vorbei. Dann hat es mit meinem Leben nichts mehr zu tun.“ Dann wäre sie wohl endgültig kein Opfer mehr.