: „Jedes Märchen thematisiert eine Gefahr“
WIMMELBILDER Geschichten, in denen nichts passiert, sind erzlangweilig, sagt die Illustratorin Rotraut Susanne Berner. In ihren Wimmelbüchern sind daher auch mal Nackte oder Raucher zu entdecken. Jetzt arbeitet sie an einem Buch mit Hans Magnus Enzensberger
■ Die Illustratorin: Berner gilt derzeit als renommierteste deutsche Kinderbuchillustratorin. Sie hat zahlreiche Preise gewonnen. 2006 bekam sie für ihr Gesamtwerk den Sonderpreis des deutschen Jugendliteraturpreises.
■ Die Wimmelbücher: Ihre großformatigen Kartonbücher sind weltweit über eine halbe Million Mal verkauft worden. Vor jeweils gleicher Stadtkulisse lässt sie Menschen und Tiere die vier Jahreszeiten erleben.
■ Die Arbeit für die Großen: Berner hat an über 800 Buchumschlägen mitgewirkt sowie Erzählbände und Bücher u. a. von Sylvia Plath und Charles Bukowski illustriert.
■ Der Werdegang: Berner wurde am 26. August 1948 in Stuttgart geboren. Sie hat an der Fachhochschule in München Grafikdesign studiert. Seit 1997 ist sie freischaffende Künstlerin. Beim taz-Kongress veranstaltete sie einen Zeichenworkshop für Kinder unter dem Titel „Fernsehen im Kopf“ .
INTERVIEW PLUTONIA PLARRE
taz: Frau Berner, zum taz- Kongress sind Sie mit einer Kiste angereist. Was haben Sie darin verstaut?
Rotraut Susanne Berner: Geschichten.
Wie bitte?
Das ist keine gewöhnliche Kiste. Das ist ein Holztheater. Die Süßigkeitenverkäufer in Japan hatten es früher auf ihrem Fahrrad, wenn sie in die Dörfer kamen. Man macht vorn die Klappe auf und steckt von hinten Bilder in den Kasten. Das ist wie ein Fernseher. Die Kiste ist bei meinen Workshops mit Kindern der Motor, sie zum Geschichtenerzählen und Bildermalen zu bringen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sie mit dem Holzfernseher durch die Lande tingeln. Laufen die Geschäfte als Kinderbuchillustratorin so schlecht?
Was meine finanzielle Lage angeht, kann ich Sie beruhigen. Ich tingele, weil ich die Bodenhaftung nicht verlieren will. Die Arbeit mit den Kindern bewahrt mich davor, eingleisig zu werden. Die Kinder haben doch eine völlig andere Sozialisation als ich. Ich komme aus einer ländlichen Welt, die es in dieser Form nicht mehr gibt.
Wie würden Sie einem Laien, der Ihre Bücher nicht kennt, Ihre grafischen Stilmittel beschreiben?
Ich male nicht. Ich zeichne. Das ist ein großer Unterschied. Meine kolorierten Figuren sind klar umrissen, sie sind lesbar. Das ist immer meine Ausdrucksform gewesen, auch wenn ich Bücher für Erwachsene mache. Der figurative Stil hängt damit zusammen, dass ich mit meinen Bildern fast filmisch Geschichten erzähle. Der literarische Hintergrund ist mir immer sehr wichtig. Man blättert um, und die Dinge von der Seite vorher haben sich weiterentwickelt.
Tiere mit Menschenhabitus wie das Kaninchen Karlchen sind die Hauptfigur vieler Ihrer Bücher. Warum Tiere?
Mit Tieren kann man viel grotesker umgehen. Man kann die Dinge mehr auf die Spitze treiben.
Warum sind die Hunde immer die Bösen?
Das sehe ich anders. In welchem Buch ist das so?
In dem Abenteuerbuch vom Kätzchen Tanja. Es findet den verschwundenen Ball in einem fremden Haus bei einem bösen Hund wieder.
Der Hund wirkt zuerst gefährlich. Aber hinterher ist er es nicht. In dem Buch geht es ja um das Thema des Fremden. Wie weit soll man sich darauf einlassen? Ich habe böse Reaktionen bekommen.
Was wirft man Ihnen vor?
Besorgte Pädagogen und Eltern meinen, man dürfe ein Kind nicht allein in ein fremdes Haus gehen lassen. Sie meinen, ich würde die Kinder mit diesem Buch dazu animieren. Das ist vollkommener Quatsch. Jedes Märchen thematisiert eine Gefahr, über die man dann auch spricht. Kindergeschichten zu erzählen, wo nichts passiert, ist doch erzlangweilig.
Im Allgemeinen geht es in Ihren Büchern aber auch sehr friedlich und harmonisch zu. Es ist fast ein bisschen zu viel heile Welt.
Soll man Zweijährigen, die gerade die Welt entdecken, zeigen, wie die Mama verprügelt oder vergewaltigt wird?
So krass muss es ja nicht gleich sein.
Eine Schweizer Rezensentin hat mal kritisiert, ich sei so politisch korrekt, weil es in den Wimmelbüchern für die ganz Kleinen auch Behinderte, Türken und Schwarze gibt. Ich überlege mir ziemlich genau, was ich mache. In den Wimmelbüchern habe ich verschiedene Ebenen eingebaut. Da ist zum Beispiel eine Katze, die sich mit einem Kater anfreundet. Im nächsten Buch kriegt sie dann Junge. Auch für die Erwachsenen, die sich die Bücher ja meistens mit angucken, habe ich ein paar Dinge eingebaut.
Irgendwo ist mitten im Gewimmel in Miniaturform ein Bild von einem Frauenakt in einer Gemäldegalerie zu sehen. Meinen Sie das?
Genau. Um solche Dinge hat es einen riesigen Eklat gegeben, als die Wimmelbücher in Amerika verlegt werden sollten. Es ist Alltag im Kinderbuch, dass amerikanische Verlage so etwas verlangen. Auslöser war eine kleine, 7,5 Millimeter große Statue mit einem Pimmelchen, das eigentlich nur ein Pünktchen war. Auch an den drei Rauchern in dem Buch wurde Anstoß genommen. Selbstredend habe ich nichts verändert, sondern mir in Amerika einen anderen Verlag gesucht. Für meine Bücher war das natürlich allerbeste Werbung.
Arbeiten Sie zu Hause in Ihrer Wohnung in Schwabing?
Nein. Ich radele jeden Tag ins Atelier. Es ist kein Atelier im klassischen Sinne, sondern eine kleine ehemalige Hausmeisterwohnung in einem Rückgebäude. Im Moment herrscht dort ziemliches Chaos. Ich habe gerade drei Wochen Arbeit in den Müll geschmissen, weil es nicht geklappt hat.
Verraten Sie uns, worum es sich handelt?
Es ist ein Buch von Hans Magnus Enzensberger mit dem Titel „Bibs“. Enzensberger wird im November 80. Ich habe ja schon ein Buch mit ihm gemacht.
Das heißt „Der Zahlenteufel“. Darin geht es um einen Jungen, der Mathematik hasst. Es heißt, das Buch habe sich vor allem wegen Ihrer Zeichnungen so gut verkauft.
Ich glaube, Enzensberger hat noch nie so ein erfolgreiches Buch gemacht. Der jetzige Text handelt auch von einem kleinen Jungen. Es ist eine altmodische Traumgeschichte, die ins Philosophische geht. Es geht um das Verschwinden der Welt und die Konsequenz daraus. Es ist schön, so etwas zu illustrieren, aber es gelingt nicht immer auf Anhieb.
Woraus schöpfen Sie Ihre Ideen?
Die Quelle bin ich. In all den Jahren hat sich in mir ja ein ziemliches Repertoire angesammelt. Auch die starken Erinnerungen an meine Kindheit fließen natürlich in meine Bilder ein.
Sie haben mit Ihrem Mann Armin Abmeier, dem Herausgeber der legendären „tollen Hefte“, keine Kinder. War es eine bewusste Entscheidung?
Es hat sich nicht ergeben. Das war kein Plan in meinem Leben.
Was an Ihrer Kindheit hat Sie so nachhaltig beeindruckt?
Ich bin 1948 geboren. Die ersten fünf Jahre habe ich in einem ländlichen Vorort von Stuttgart bei meiner Oma, einer Bäuerin, verbracht. Aus dieser Zeit rühren die intensiven Erinnerungen, die sehr viel mit Natur und elementaren Dingen zu tun haben. Schlimme Gewitter, Erde, Kartoffelkäfer. Für Kinder ist ja alles hundertmal stärker.
Sie haben drei Geschwister. Was haben Ihre Eltern gemacht?
Mein Vater Lektor, später Verlagsleiter. Meine Muter war zu Hause. Meine Oma hat mich immer mit aufs Feld genommen.
Hatten Sie ständig aufgeschlagene Knie ?
Im Gegenteil. Ich war extrem ängstlich und zaghaft. Vor allem hatte ich Angst: vor den Jungen in der Schule, vor dem Ins-Wasser-Springen, vor den Hunden. Ich hatte eben eine sehr starke Fantasie, dadurch wurde die Angst auch genährt.
Wie wurden Sie gerufen, Rotraut oder Susanne?
Rotraut. Das war auch so ein Kummer. Alle Kinder haben zu mir natürlich Rotkraut gesagt. Ich wollte immer Susanne heißen. Mein Vater hat das aber nicht erlaubt. Was dir mitgegeben ist, damit musst du leben, hat er gesagt. Alles, was trivial war, war bei uns verpönt. Wir durften keine Comis lesen und keine Schlager hören.
Wann haben Sie Ihre Leidenschaft fürs Zeichnen entdeckt?
Was soll ein Kind der 50er-Jahre anderes tun, als zu zeichnen und zu lesen? Wir hatten kein Auto und keinen Fernseher. Radiohören war verboten. Sonntagsmorgens gab es das Wunschkonzert. Abends mussten wir Spiele machen mit meinen Eltern. Sonntags wurde gewandert. Ich hab’s gehasst.
Kommen Sie sich mit Ihren handgezeichneten Kinderbüchern im Zeitalter von Gameboy, Playstation und DVD nicht manchmal vor wie auf einem anderen Stern?
Überhaupt nicht. Das Buch als Medium ist einfach unschlagbar. Da kann ein Kleinkind selbst drin blättern, es kann sogar mal reinbeißen. Keins von den genannten Dingen kann mit Büchern konkurrieren. Aber ich gehöre nicht zu den Menschen, die die elektronischen Medien verteufeln. Ich finde das billig.