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Archiv-Artikel

Gehorsam erwünscht

In einem Dorfmuseum in Brandenburg können Besucher nachspielen, wie es sich anfühlte, Anfang des 19. Jahrhunderts zur Schule zu gehen

„Es ist normal, dass unsere Gäste über diesen preußischen Untertanengeist erst einmal lachen müssen“

Bevor die Gäste das Schulgebäude betreten, sollen sie ihre Füße fein abkratzen und einen Knicks oder einen Diener machen, sagt Marianne Dengler. Aber ihr Name interessiere nicht wirklich, fügt die Rentnerin hinzu. „Für euch bin ich nur das Fräulein Lehrerin.“ Die zwanzig Besucher im Alter zwischen 8 und 70 Jahren wollen heute im Schulmuseum im Dorf Reckahn in Brandenburg eine Schulstunde aus der Kaiserzeit erleben.

Das Museum ist in den Räumen untergebracht, in denen der Gutsherr und Pädagoge Friedrich Eberhard von Rochow 1774 Preußens erste ganzjährige zweiklassige Landschule eingerichtet hatte. Ganz so alt sind die schmalen Schülerbänke, auf denen sich die Gäste zwängen, nicht. Aber immerhin: Mobiliar, Schiefertafeln, Tintenfässer und Gänsefedern stammen aus der Zeit um 1900, als Preußens Schulen brave Untertanen, die einmal mit Gott, für Kaiser und Vaterland in den Krieg ziehen sollten, in Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Religion und Gesang unterwiesen. Bis zur Wortwahl atmet der Schulraum den Geist des Militarismus. „Tornister“ hießen etwa die Schulmappen, genau wie die Rucksäcke der Soldaten.

„… und mache mich recht fromm und gut,“ endet das Morgengebet, ohne das in der Kaiserzeit keine Schulstunde begann. Danach erläutert das „Fräulein Lehrerin“ die Regeln der preußischen Dorfschule: „Die Hände der Schüler sollen auf den Tischen ruhen.“ Entweder sind sie ineinander verschränkt oder ruhen parallel zueinander. „Das ist aber auch alles, was sich Schüler damals aussuchen durften“, sagt Marianne Dengler.

Alles andere schrieb ein Erlass vor, den Preußen nach dem Reichschulgesetz von 1872 herausgab: Die Beine haben parallel zueinander unter den Tischen zu sein. Der Blick ist nach vorn gerichtet, auf das Pult. Wer den Blick schweifen ließ, konnte bestraft werden. Das verpflichtete die Schulmeister und ihre weiblichen Gehilfen, denen etwa der Handarbeitsunterricht anvertraut war, die Unterrichtsstunde ununterbrochen hinter dem Pult zu stehen. Es sei denn, sie maßregelten gerade einen Schüler oder kontrollierte die Schreibarbeiten. Die Verordnung regelte sogar, wie die Schüler antworteten sollten: Im ganzen Satz, der mit dem Zusatz „Fräulein Lehrerin“ oder „Herr Lehrer“ zu enden hatte.

„Es ist normal, dass unsere Gäste über diesen preußischen Untertanengeist erst einmal lachen müssen“, sagt Marianne Dengler. Aber nach einiger Zeit beginnen sie mitzuspielen. So wie die 50-jährige Frau, die nicht ohne Konflikte neben ihrem zehn Jahre jüngeren Neffen auf der schmalen Bank Platz gefunden hat. „Der schubst mich, Fräulein Lehrerin“, nimmt sie das Spiel auf. Marianne Dengler beeindruckt das nicht. „Du sollst nicht petzen.“ Damit fegt sie jeden Widerspruchsgeist vom Tisch, ganz wie die Lehrer vor 100 Jahren. Man merkt Marianne Dengler an, dass sie selbst jahrelang vor einer Schulklasse gestanden hat. Sie war bis vor sieben Jahren Geschichtslehrerin.

Die Schreibstunde beginnt mit dem Buchstaben „i“, den die Schüler in Sütterlinschrift auf ihre Schiefertafeln schreiben sollen. Aber damit sich diese Utensilien nicht allzu schnell abnutzen, werden die ersten Schreibübungen in der Luft ausgeführt. Marianne Dengler steht am Pult, den Rücken zur Klasse, und demonstriert den Bewegungsablauf: „Rauf – runter – rauf – Pünktchen drauf.“ Die Schüler müssen den Spruch immer wieder im Chor wiederholen, während sie in der Luft das „i“ malen. Sitzt der Bewegungsablauf, dürfen die Schüler die Schiefertafel benutzen und weiterüben.

Das ist der Moment, in dem Marianne Dengler das Pult verlässt. Sie geht durch die Reihen, lobt und tadelt für die Ausführung der Schreibübungen und nutzt die Zeit gleich für die Hygienekontrolle. „Lieschen, hast du ein sauberes Taschentuch in der Tasche?“, fragt sie die ältere Dame. Die zeigt das Gewünschte vor. „Karl, sind deine Fingernägel sauber?“ Karl, der im wirklichen Leben Ingolf heißt, spielt mit und zeigt seine Hände.

Prügelstrafe und Strafestehen in der Ecke werden im Spiel nicht praktiziert. Verordnungen regelten, wann und wie dies anzuwenden war. Geprügelt wurden Jungen auf den Hintern. Mädchen sollten den Rohrstock auf dem Rücken, in der Weimarer Republik auf den Händen spüren. MARINA MAI