Die Fesseln der Zeit

Im Angesicht des Universums ist alles auf der Erde nichts: Der junge amerikanische Schriftsteller Andrew Sean Greer erkundet in seinem schönen, reifen und durchweg melancholisch verhangenen Debütroman „Die Nacht des Lichts“ die Verwerfungen im Leben einer Gruppe von jungen Wissenschaftlern

VON GERRIT BARTELS

Andrew Sean Greer kennt kein Pardon mit seinen Figuren. Er schätzt keine langwierigen psychologischen Ausdeutungen, auch keine erzählerischen Umwege, und so geht es in seinem Roman „Die Nacht des Lichts“ geradezu beängstigend schnell zur Sache und mitten ins Herz der Zweifel. Ob das die 25-jährige Denise ist, deren Liebe bislang den Sternen galt, die aber bei der ersten Liebe zu einem Mann sofort eine herbe Entäuschung erlebt; oder der 25-jährige Eli, der zwar als aufstrebender Astronom gilt, aber seine Begabung schon wieder schwinden sieht; oder Elis Frau Kathy, die weiß, dass sie weder hübsch noch besonders klug ist, sondern unscheinbar, kauzig, abweisend – sie alle haben von früh an einen Knacks weg, der sie ihr späteres Leben begleitet. Entwicklung ist möglich, aber nur in den Grenzen des einmal angelegten persönlichen Profils.

Gerade Eli und Denise dürfen sich zwar auch als Auserwählte fühlen, da sie 1965 mit ihrem Astronomieprofessor einen Ausflug zu einer Insel im Südpazifik unternehmen, um hier einen Kometen zu beobachten; als leidenschaftliche Wissenschaftler mit besten Karrierechancen. Aber, auch daran lässt Greer von Beginn an keinen Zweifel, die Zeit ist nicht die ihre. Die Studentenbewegung hat Amerika fest im Griff, die beschwingenden Sechzigerjahre steuern ihren Höhepunkten entgegen, „doch sie hatten nur Augen für Kometen und Feuerbälle – nachts im Bett lasen sie Gedichte, laut, und hörten nicht, merkten nicht, dass ihre Zeit usurpiert wurde“.

Kein Wunder, dass sie in den dunklen Inselnächten jedes Mal „Zeit“ rufen, wenn ein Meteor die Ankunft des Kometen verkündigt: „Zeit“. Erstaunt klingt das, begeistert, aber auch beschwörend, als ahnten sie, wie schnell ihnen die Zeit entgleitet. Kein Wunder, dass auf der Insel die Zeitrechnung eine andere ist und sie 13 Tage zum Rest der Welt zurückliegt: Das suggeriert Unbescholtenheit und dass jederzeit Neuanfänge möglich sind. Kein Wunder auch, dass ihnen allen auf der Insel der Tod erstmals begegnet, als ein kleiner Junge von einem Ausguck in die Tiefe stürzt und stirbt.

Nun mag es etwas misstrauisch machen, was der 1970 geborene Andrew Sean Greer in seinem 2001 in den USA unter dem Titel „The Paths Of Minor Planets“ erschienenen Debütroman für ein Tempo anschlägt; wie nonchalant er seine Themenparks anlegt, die Liebe und überhaupt das Leben auf der einen Seite, die existenzielle Erfahrung des Todes und die Macht der Zeit auf der anderen; und wie offensichtlich er seine Leser darauf stößt. Kann das gut gehen, fragt man sich? Tappt so nicht jemand sehend in die Fallen des Trivialen? Verhebt sich da nicht ein junger Autor, der zwar seit seinen frühen Zwanzigerjahren schreibt, aber mit seinem 2000er-Erzählband „How It Was For Me“ nur ein paar literarisch Eingeweihte wie etwa Michael Chabon begeistern konnte?

Greer beweist, dass diese Bedenken unbegründet sind und er seinen großen Stoff souverän zu gestalten und unpeinlich aufzubereiten weiß, inklusive des astronomischen, der hier selbst den Unbedarftesten keinen Schrecken einjagt. Während in Folge das Amerika der Sechziger- bis Achtzigerjahre nur eine ferne Begleitmusik darstellt, strukturiert Greer seinen von Uda Strätling bis auf einige Irritationen wie „Unwucht“ oder „Scheiben“ (für LPs) solide ins Deutsche übertragenen Roman mit Hilfe eines Kometen. Diesen hat Elis und Denise’ Astronomie-Professor Swift 1953 entdeckt, dieser ist nach ihm benannt. Bis zum Jahr 1990 treffen sich die Hauptfiguren alle sechs Jahre, entweder am sonnenfernsten oder am sonnennächsten Punkt dieses Kometen. Nach dem Tod des Jungen 1965 sind sie eine Art Schicksalsgemeinschaft geworden, ohne dass sie sich dessen bewusst sind und ohne dass Greer diesen Tod nun als entscheidenden roten Faden durch sein Buch ziehen würde. Vielmehr entrollt er im steten perspektivischen Wechsel ihrer aller Leben mitsamt seinen Verwerfungen.

Eli und Denise haben 1965 auf der Insel eine Affäre, driften wieder auseinander, haben Jahre später erneut eine, beim gemeinsamen Kometensuchen! Denise hat unterdessen den Schriftsteller Adam geheiratet, einen Mann, der in einem stillen Moment erkennt, „dass Scheitern nicht als Holzhammer kommt, sondern als Kelle, die ein Leben ebnet und zementiert“. Beide bekommen ein Kind: Joshua. Eli bleibt bei Kathy und geht mit ihr für lange Zeit nach England. Professor Swifts Ehe wird geschieden, aber von seinen zwei Töchtern bleibt eine bei ihm, Lydia, nur um sich später von ihm loszusagen: „Daddy, du bist auch nur so ein Intellektueller.“

Es ist beeindruckend, wie locker und ohne groß die Bedeutungskeule zu schwingen Greer seinen Beziehungsreigen aufspannt. Immer wieder versuchen vor allem Eli und Denise „zurückzukehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt“, um es mal mit Robert Musil zu sagen, und immer wieder stehen sie sich selbst im Weg oder werden von ihren Ehepartnern Kathy und Adam daran gehindert. Beider Ehen gehen in die Brüche, und sie alle, seien es die Ehepaare, seien es Swift und seine Tochter Lydia, sei es sein Kompagnon Manday, müssen feststellen, dass es nur dieses eine Leben gibt und man dieses nicht einfach gegen ein neues austauschen kann.

Sehr reif wirkt das alles, aber auch niederschmetternd. Greer lässt trotz aller Kometenguckerei nur wenig Licht in seinen durchweg melancholisch verhangenen Roman. Am Ende siegt die Gegenwart, das große „Now“, und die Überlebenden erkennen, in Abwandlung eines Sprüchleins von Thomas Bernhard: Im Angesicht des Universums ist alles auf der Erde nichts.

Andrew Sean Greer: „Die Nacht des Lichts“. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, 352 Seiten, 22,90 €