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Archiv-Artikel

Die Zukunft ist ein Schneeballsystem

Wer etwas über den Zustand der Welt erfahren will, muss Fragen stellen. Jochen Gerz, der die Kunst der Frage zum Konzept erhoben hat, versucht in seinem Projekt „Anthologie der Kunst“, ein Bild von einer unbekannten Kunst der Zukunft zu gewinnen. Mit 312 Teilnehmern in der Akademie der Künste

Die Verunsicherung über den Stellenwert von Kunst hält bei Jochen Gerz schon länger an. Einerseits gibt es immer mehr Ausstellungen, die zeigen, wie sich die künstlerische Produktion auch an der Peripherie und selbst in den entlegensten Winkeln der Erde rasant fortentwickelt hat; andererseits haben Biennalen und Großevents dermaßen zugenommen, dass kein Mensch mehr den Überblick hat, was derzeit in der Kunst geschieht. Gerz packt das in eine sehr prägnante Formel, wenn er zur Eröffnung seiner Ausstellung „Anthologie der Kunst“ in der Akademie der Künste davon spricht, dass er „den Zugriff verloren hat“, und ergänzt lapidar, „vielleicht liegt’s am Alter“.

Gerz ist 64 Jahre alt, weiß als erfahrener Konzeptkünstler aber genau, wie man mit dem Problem produktiv umgeht. Wenn man etwas über den Zustand der Welt erfahren will, muss man Fragen stellen. Daran arbeitet er seit über einem Jahrzehnt: Bei der „Bremer Befragung“ ließ er die Einwohner der Hansestadt 1993 mit ihren eigenen Antworten festlegen, zu welchem Thema seine Arbeit Stellung nehmen sollte – das Kunstwerk bestand aus der Summe der eingereichten Statements. In Oberhausen hat Gerz 1996 danach gefragt, was die Oberhausener ändern würden, wenn das 20. Jahrhundert noch einmal stattfände; und für das Bundesfinanzministerium wurde drei Jahre später ein Video realisiert und in Pfosten am Eingang installiert, in dem Hans Eichel und seine Angestellten auf die Frage antworten: „Das Geld, die Liebe, der Tod, die Freiheit – was zählt am Ende?“

Fragen über Fragen, jetzt also nach dem State of the Art. Im Jahr 2000 hat Gerz ein Internetprojekt gestartet, für das sechs Künstler und sechs Theoretiker eingeladen wurden, um auf die Frage zu antworten: „Was könnte, angesichts Ihres Bildes von der Kunst heute eine noch unbekannte Kunst sein?“ Die Autoren schickten Texte, die Künstler schickten Abbildungen ihrer aktuellen Produktion.

Danach durften die eingeladenen Gäste zwölf neue Teilnehmer benennen, nach diesem Schneeballsystem ging es im Zwei-Wochen-Rhythmus ein Jahr weiter, so dass am Ende 312 Personen an der von Gerz initiierten „Anthologie der Kunst“ beteiligt waren. Die Streuung ist enorm, immerhin kamen Rückmeldungen aus 37 Ländern und fünf Kontinenten. Gleichwohl gab es keine kuratorisch ordnende Hand: Dadurch, dass die Einladungen von Person zu Person weitergereicht wurden, ist ein Netzwerk entstanden, das sich quasi selbst organisiert hat. Ein Kettenbrief, der mit Hannes Böhringer, Daniel Buren oder Rosemarie Trockel anfing und bei Adela Vaetisi in Bukarest endete. Dazwischen springt die Liste von prominenten Kunsttheoretikern und völlig unbekannten Künstlern willkürlich hin und her – auch das ein Zeichen der unübersichtlich gewordenen Connections.

Für die Berliner Präsentation sind die Texte und Bilder ohne Namensangabe auf Banner gedruckt, die nun die gesamte obere Etage der Akademie füllen. Keine Frage, die Texte dominieren visuell, schon wegen der einheitlichen Typografie, während manche Kunstwerke auf Postergröße ziemlich verwaschen, manchmal auch unscharf aussehen. Durch die Monumentalität der Inszenierung verzettelt man sich beim Lesen leicht, weshalb Gerz parallel zu seinem bunt gemischten Anthologie-Labyrinth einen bald 400 Seiten starken Katalog mit allen Beiträgen herausgebracht hat.

Das alles klingt nach einem futurologisch ausufernden Kongress, meint aber Gegenwart. Denn um etwas über zukünftige Formen und Möglichkeiten von Kunst auszusagen, muss man zunächst einmal beschreiben, was im Hier und Jetzt schief läuft. Insofern ist die Anthologie mit ihrer Bestandsaufnahme auch eine Kritik des aktuellen Kunstgeschehens.

Fast jeder, der eingeladen wurde, wünscht sich mehr Gesellschaftsrelevanz und weniger Marktdenken. Das mag einem auf den ersten Blick als triviale Erkenntnis erscheinen, aber Gerz geht es ja nicht unbedingt um Optimierung, sondern um die schlichte Sichtung der Fakten. Dieser Zugriff auf die Wirklichkeit der Kunstproduktion ist ihm dann doch geglückt.

HARALD FRICKE

Bis 9. Januar 2005, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10. Der Katalog ist im DuMont-Verlag erschienen und kostet 40 €