Das Phantom der Wilden

Ein vielschichtiger und virtuos erzählter Roman über eine Gruppe verzweifelter Iren, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten auswandern: Joseph O’Connors „Die Überfahrt“

VON ANDREAS MERKEL

Der Mörder ist immer schon unter uns und wandert Nacht für Nacht ruhelos übers Zwischendeck wie ein Phantom: „Die Matrosen fragten sich manchmal, ob das nächtliche Ritual des Phantoms wohl eine religiöse Bedeutung hatte, ob es womöglich eine exotische Bußübung war, wie die irischen Katholiken sie dem Vernehmen nach so liebten. […] Sie glaubten an seltsame Dinge, diese irischen Wilden, und ein Seemann, dem das Schicksal solche Leute an Bord brachte, musste damit rechnen, dass er merkwürdige Dinge sah. […] Vielleicht war das Phantom ein Heiliger: einer ihrer großen Lehrmeister.“

In Joseph O’Connors groß angelegtem neuen Roman geht es um einen spektakulären Kriminalfall, und er ist ein historisches Sittengemälde aus dem elenden Winter des Jahres 1847, als eine Schiffsladung voll verzweifelter Auswanderer „Die Überfahrt“ von Irland nach New York wagt. An Bord des alten Seelenverkäufers „Stella Maris“ fliehen sie alle vor der Kartoffelpest, der Hungersnot und den Verhältnissen, die in ihrer Heimat herrschen. Ein Querschnitt der Gesellschaft: die mittellose und verarmte Landbevölkerung in den unteren Decks genauso wie eine illustre Schar von Aristokraten in der „Champagner“-Klasse auf dem Oberdeck.

O’Connor beschreibt dieses Panoptikum anhand von vier Hauptfiguren. Da ist zunächst einmal G. Grantley Dixon, ein amerikanischer Journalist, der für die New York Tribune von der Hungersnot berichtet und unter dessen Herausgeberschaft der gesamte Roman als die „Notizen eines Amerikaners auf Reisen“ erscheint. O’Connor lässt diesen ambitionierten Autor als Ich-Erzähler auftreten, der sämtliches Material über einen Kriminalfall recherchiert und vom Logbucheintrag bis zum Gerichtsprotokoll gewissenhaft dokumentiert. Dixon ist darüber hinaus nicht nur Zeitgenosse des ihm verhassten Charles Dickens und erster Leser einer soeben unter Pseudonym erschienenen Novelle „Wuthering Heights“, sondern auch immer wieder selbst in die Handlung verstrickt.

Diese entspinnt sich in stimmungsvollen Rückblenden vor allem um David Merridith, seines Zeichens Lord von Kingscourt, einem verarmten irischen Aristokraten, der mit seiner Familie vor dem Bankrott und seinen enttäuschten Pächtern flüchtet. Sein Vater hat die ihm vererbten Ländereien in Grund und Boden gewirtschaftet, jetzt trachten ihm die finsteren Männer der „Else Be Liables“, einer frühen irischen Untergrundbewegung, nach dem Leben. Sie haben das mit einer schier unglaublichen Lebensgeschichte durch das Buch nomadisierende Phantom namens Pius Mulvey mit ihrer Rache beauftragt: Sollte Lord Kingscourt lebend in der Neuen Welt ankommen, droht dem „Monster“ Mulvey selbst der grausame Tod. Die beiden Männer indessen stehen darüber hinaus auch in inniger Verbindung mit dem Landmädchen Mary Duane, die als Dienerin der Familie Kingscourt mit an Bord ist. Sie war einst die Jugendfreundin des Lords, später die Geliebte von Pius Mulvey.

Bereits in diesem knappen Ausblick auf eine ebenso komplexe wie grandios durchkomponierte Handlung ahnt man die Gefahren und Untiefen, die der 1963 in Dublin geborene Joseph O’Connor (der Bruder von Sinéad!) mit seinem fünften Roman zu umschiffen hatte. Ein „Stoff“, nach dem sich jeder Erzählprofi die Finger leckt: „Die Überfahrt“ atmet den Geist der großen Romane des 19. Jahrhunderts ebenso wie den des Breitwandkinos der Gegenwart, von „Gangs of New York“ bis „Shawshank Redemption“. Aber O’Connor fühlt sich zuerst der Literatur und ihrer Introspektion verpflichtet. Er weiß um die „Lüge des Imperfekts“ (Nietzsche) und begegnet ihr mit einer Vielschichtigkeit von Perspektiven, um der gemütlichen Eindimensionalität und moralischen Wertung entschieden entgegenzutreten, denen Geschichtsromane, aus einem besserwisserischen Nachhinein heraus erzählt, sonst gerne zum Opfer fallen. Nur gelegentlich merkt man dem sorgfältig übersetzten Roman an, dass sich O’Connor mit dem zeitgenössischen Pathos im Ton seiner Protagonisten ein wenig zu wohl fühlt. Oder er verheddert sich kurz zwischen den Perspektiven, und jemand, der eben noch skeptisch in der dritten Person beobachtet wurde, muss im selben Kapitel noch als Ich-Erzähler in die Bresche springen. Aber das sind kleine Mäkeleien an einem Meisterwerk, das dem Leser mit allen Risiken und Nebenwirkungen an die Nieren geht.

Noch bedrückender als in Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“ wird hier die Not der irischen Auswanderer geschildert, die, in New York angekommen, noch lange nicht gerettet sind. Man denkt unweigerlich an Lou Reed, der die „Statue of Bigotry“ besingt, und man weiß, dass das Problem der Migration bis heute nichts von seiner Dringlichkeit verloren hat. Am Ende, auch das löst Joseph O’Connor noch virtuos auf, sollte man sich eben nicht zu sicher sein, wer der Mörder ist.

Joseph O’Connor: „Die Überfahrt“. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 464 Seiten, 19,90 €