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Archiv-Artikel

Worte statt Verwahrung

Mit einem neuen „Irrtu(r)m“ feiert die „Initiative für Menschen mit Psychiatrieerfahrung“ ihr 15-jähriges Bestehen

Der „Irrtu(r)m“: in Umfang, Kontinuität und Selbstständigkeit deutschlandweit einzigartig

Wer ist verückter: Georg W. Bush, der Bomber in den Irak schickt, oder Thorsten Wiese, der darüber Verse schreibt? Die Ärzte haben ihr Urteil längst gefällt: Wiese hat eine psychiatrische Behandlung hinter sich. Unter dem Eindruck seiner Erlebnisse begann er, sich beim „Irrtu(r)m“ zu engagieren. Seit drei Jahren arbeitet er jetzt schon für die Zeitungsinitiative, die Menschen mit Psychiatrieerfahrung ein Forum gibt.

In diesem Jahr feiert der „Irrtu(r)m“, der sich seinen Namen von den ersten, gefängnisähnlichen psychiatrischen Verwahranstalten ableitet, ein kleines Jubiläum: Er existiert seit 15 Jahren. Gegründet wurde er 1988 von ehemaligen Langzeitpatienten der aufgelösten psychiatrischen Anstalt Kloster Blankenburg. Unter der Leitung von Gottard Raab entstanden auf der Schreibmaschine die ersten Hefte, mit einem bescheidenen Umfang von 30 Seiten. Die neueste, 15. Ausgabe ist knapp 130 Seiten stark, wird in einer Auflage von 1.500 Stück gedruckt und bündelt die Beiträge von 23 AutorInnen.

Der Erfahrungshintergrund der Redaktionsmitglieder hat sich über die Zeit gewandelt: Statt der langzeithospitalisierten Menschen aus den Anfangsjahren sind es, nach der Psychiatriereform in Bremen in den 80er Jahren, jetzt zumeist Patienten, die nur in akuten Fällen stationär behandelt werden. Gleich geblieben ist die Ablehnung der ordnungspolitischen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie.

In den letzten Jahren sind Existenzsorgen dazugekommen, die durch gesellschaftliche Debatten ausgelöst werden. Die Kürzung der Sozialhilfe, von der viele „Irrtu(r)m“-Mitarbeiter abhängig sind, verschlechtern die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens.

Gottard Raab betont, dass die wichtigste Vorausetzung für Mitarbeit am „Irrtu(r)m“ die Toleranz gegenüber der Meinungsvielfalt in der Redaktion sei. Die Artikel kommen per Mehrheitsvotum ins Blatt. Eine Zensur ist nicht erwünscht. „Das ist auch der Grund, weshalb wir im außerklinischen Bereich arbeiten,“ erläutert Raab. „Als interne Hauszeitung einer psychiatrischen Klinik hätten wir diese absolute Meinungsfreiheit nicht.“ Nach seinen Angaben ist der „Irrtu(r)m“ in Umfang, Kontinuität und Selbstständigkeit einzigartig in Deutschland.

Die Zeitungsinitiative versteht sich nicht nur als Sprachrohr für Menschen, die in psychiatrischen Anstalten „ihrer Stimme beraubt“ wurden, sie soll auch durch die Redaktionsarbeit das Selbstwertgefühl des Einzelnen stärken. Natürlich prallen trotzdem die Weltanschauungen der Redaktionsmitglieder aufeinander: „Den Spruch, Ringe in der Nase haben bei uns nur die Schweine‘ durfte sich ein Punk schon mal anhören,“ erzählt Raab.

Am Mittwoch erscheint das neue Heft mit dem Titel „Seelenkaleidoskop“. Aus diesem Anlass werden die AutorInnen auf einer Lesung in der Kulturwerkstatt Westend ihre Texte vorstellen. Wie subjektiv eine Einteilung in „gesunde“ und „kranke“ Menschen anmuten kann, zeigt ein Artikel von Detlef Tintelott, der sich bei der Einweisung in die Klinik als unternehmungslustigen Meschen beschreibt und sich bei seiner Entlassung als ein mit „Psychopillen“ vollgepumpter Schlaffi wahrnimmt. Cornelia Kaiser schreibt, dass sie mit Psychopharmaka besser leben könne, stellt aber auch fest, dass sie „pflegeleichter“ geworden sei. Ingrid Gerke fragt, mit welchem Recht die jüngsten Experimente am Gehirn Ulrike Meinhofs genutzt würden, um die Terroristin als „krank“ abzustempeln.

1954 beschrieb Michel Foucault in seinem Buch „Psychologie und Geisteskrankheit“, wie der Vorwurf des „Wahnsinns“ entwickelt wurde, um sich unerwünschte Personen vom Hals zu schaffen. Der psychiatrische Diskurs stützt sich selbst, in dem er diejenigen, die er ins soziale Abseits stellt, auch noch der Stimme beraubt. In Bremen bleibt der „Irrtu(r)m“ neben dem „Blaumeier Atelier“ und der „Blauen Karawane“ eine der Möglichkeiten für Menschen mit Psychiatrieerfahrung, einfachen Wahrheiten öffentlich zu widersprechen. Tim Ackermann

Party zur Veröffentlichung: Mittwoch, 15.00 Uhr in der Kulturwerkstatt Westend. Die Zeitschrift ist ab Freitag für 3 Euro in gut sortierten Buchläden sowie in der „Irrtu(r)m“-Redaktion, Vegesacker Str. 174, zu bekommen