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Archiv-Artikel

Tabu im Fokus

Kristina Ohmens „Heimat“-Abend im Thalia-Nachtasyl

Kräftige Jodler und monotone Ländler dudeln aus den Lautsprechern. Aggressiv reißt der junge Mann im Cordanzug (Michael Ransberg) das Mikrofon an sich, ärgert sich mit Martin Walser über den deutschen Süden mit seinen Trachtengruppen und seinem Bierhumpenverständnis von Heimat: „Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit.“ Einerseits. Andererseits, so denkt der Anzugträger laut, bedeute „Heimat“ aber auch die „leisen Wörter hinter den lärmenden Worten“.

Mit ihrer inszenierten Textcollage „Heimat“, am Donnerstag uraufgeführt im Nachtasyl des Thalia Theaters, beleuchtet die Nachwuchsregisseurin Kristina Ohmen Facetten dieses Begriffs. Die Schauspielerin Julia Köhn liest eine lange Passage aus dem „Heimat“-Text von Judith Hermann. Von den Eltern wegwollen und sich gleichzeitig dort hingezogen fühlen, das ist hier das Thema. Rasant schwingen sich die beiden Schauspieler von den Barhockern auf den Tresen, stehen plötzlich im großen alten Fensterrahmen des Nachtasyls, stimmen grölend „Ein Freund, ein guter Freund“ an, ehe sie wieder leiser werden. Erinnerungen an „den Hof meines Vaters“ treten da zutage, an den Ort, „wo man nie zum ersten Mal ankommt, aber zum ersten Mal wegfährt“, „die Landschaft, die dich kennt“. Ein Satz, der berührt, doch zum Verweilen fehlt die Zeit: Schon geht die Reise weiter: zu Ellida, Ibsens Frau vom Meer, die an Land nie Wurzeln schlug.

So entsteht ein Kaleidoskop aus Gefühlszuständen, Perspektiven und Fragen. „Kann Ideologie Heimat sein?“ ist eine, die ihren ironischen Kommentar findet, als Michael Ransburg eine plumpe Rede aus Versatzstücken ewig Deutschtümelnder bastelt. Dann ein harter Schnitt. Weißes Licht fällt auf das Mikro, untermalt vom aufdringlichen Sound eines hängen gebliebenen LP-Arms. Julia Köhn erinnert an die „Heimatlosigkeit“ der „ins Eisen Gebetteten“, und das reicht, um kalte Gefühle zu erzeugen, die auch dazugehören. Aber eben nicht nur, das macht die Inszenierung klar, und überwindet so einen öffentlichen Diskurs, der seit dem Missbrauch des Heimatbegriffs durch die Nationalsozialisten „Heimat“ nur noch als Tabu kannte. Diese Inszenierung überwindet ihn, ohne ihn auszuklammern. Katrin Jäger