: Masturbation als Schicksal
Die Anthologie „Brüste kriegen“, herausgegeben von Sarah Diehl, geht um die weibliche Pubertät: Fragen wie Tampon oder Binde? werden ebenso verhandelt wie das Dekolleté von Superstars
VON CHRISTIANE RÖSINGER
Der Titel der neuen Anthologie des Berliner Verbrecherverlags schreckt erst einmal ab: „Brüste kriegen“. Das klingt nach Old-School-Differenzfeminismus, nach der Biologisierung der Geschlechterdifferenz.
Jede feministisch interessierte junge Frau hatte Anfang der Achtziger die Rowohlt-Schinken „Unser Körper – Unser Leben“ und Band zwei „Unsere Kinder – Unser Leben“ im Regal stehen. In zahlreichen Publikationen wurde die monatliche Menstruation als immer wiederkehrendes schicksalschweres Wunder gefeiert und schwelgerisch erklärt, wie die Fähigkeit des Gebärens Frauen allgemein zu Göttinnen, zu besseren, wertvolleren Menschen, zu Friedensengeln mache.
Die Vorstellung von der Besonderheit und moralischen Überlegenheit des weiblichen Geschlechts erfand die spezifisch weibliche Kultur, das weibliche Schreiben, Fließen, Menstruieren … Als Spätfolge davon befassen sich viele Frauen auch heute noch in ihrer Kunstproduktion mit Körperlichkeit, Missbrauchserfahrung, weiblichem Fließen, Märchenbildern, während uns immer noch vorwiegend Männer die Welt und ihre Sicht darauf erklären.
Zum Glück konnten sich Frauen und Männern in den Neunzigern mit dem neuen, frischeren Feminismus befassen, und heute hat man sich mit dem Gedanken angefreundet, das Geschlecht als etwas Konstruiertes anzusehen. Schließlich macht es nicht nur strategisch betrachtet Sinn, darauf zu beharren, dass Frauen und Männer mehr Gemeinsames als Unterschiedliches haben. Trotzdem blühen die Biologismen wie nie zuvor, wird geschlechterspezifisches Verhalten im Jahr 2004 gern mit dem unserer nahen Verwandten, den Primaten, erklärt. Sogar die Einparkschwäche gilt da als genetisch bedingt. So erscheint es zunächst ein Rückschlag, sich erneut mit dem Phänomen „Brüste kriegen“ zu befassen. Aber Sarah Diehl, Herausgeberin der Anthologie stellt im Vorwort klar, dass „Brüste kriegen“ kein „Problembuch“ sein soll: „Wie erleben nun Mädchen die Zeit, in der sie aktiv einen weiblichen Habitus kultivieren müssen, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden? Welche Rolle spielt dabei die Konfrontation mit biologischen Begebenheiten wie das Einsetzen der Menstruation und das Größerwerden der Brüste?“ Was für ein Wort allein: Brüste. Ein Wort, das man eigentlich nur aus Schwulstromanen kennt: Unter ihren dünnnen Bluse zeichneten sich ihre Brüste ab, ihre sprießenden Knospen … Ob Brüste, Busen, Möpse oder Titten – sie werden in der Pubertät zum Thema und zur Problemzone Nummer eins. Alle Brüste sind die Falschen: Sie sind nicht rechtzeitig da oder kommen ungewollt, sind dann entweder zu klein oder zu groß, die Flachbrüstigen werden von den Jungs ignoriert, die Großbusigen werden beglotzt …
Die Autorinnen der Anthologie sind zwischen 27 und 45 Jahre alt. Die Pubertät liegt da eine Weile zurück, manch eine muss sich erst mühevoll erinnern. Aber bestimmte Grundmotive tauchen in fast allen Texten auf: Der misslungene BH-Kauf. Bravo und Dr. Sommer klären auf. Grundsatzfrage, Tampons oder Binden? Der Bleistifttest. Das erste Mal … Die Musikjournalistin Kerstin Grether gestaltet das Brüste-Thema in einem modernen Märchen, in dem die Prinzessin Engelduld, ein Früchtchen-BH von H&M und das Dekolleté von Beyoncé eine Rolle spielen. Die Musikerin und Autorin Annette Berr zieht einen Bogen vom Turnplatz der Kindheit zur U-Bahn-Fahrt der Gegenwart. Die erst kürzlich verstorbene Testcard-Mitherausgeberin Tine Plesch schreibt in einem schönen Text von ihrer Jugend in Mittelfranken. Und Françoise Cactus erzählt auf ihre amüsiert-frivol fabulierende Art wie sie zur schulischen Sexberaterin wurde.
Bei aller, dann doch, Problematisierung der weiblichen Pubertät, fällt der Beitrag der Künstlerin Käthe Kruse („Die Tödliche Doris) heraus. Sie interviewt die zwölf und dreizehn Jahre alte Camilla und Edda, und die Mädchen finden die Zeit der Pubertät eher interessant als problematisch, sind mit ihrem Körper im Großen und Ganzen zufrieden, hören lieber Black Eyed Peas statt Britney Spears. So finden sich in der Anthologie durchaus interessante Texte. Am Ende der Lektüre kommt jedoch der Gedanke auf: Wäre es nicht an der Zeit, mehr über den problematischen Körper des jungen Mannes zu erfahren? Wie werden Männer denn in ihrer Pubertät so konstruiert? Eine Jugend zwischen Eiercatch und Stimmbruch, Onanie als Schicksal?
Die Anthologie „Brüste kriegen“ wird heute Abend in der Volksbühne mit einer Lesung, Podiumsdiskussion und Livemusik präsentiert.