: Wir werden jetzt handeln
Ohne Verzug müssen wir armen Entwicklungsländern die Möglichkeit geben, antizyklische Konjunkturpakete zu schnüren und die UNO stärken
■ ist Mitglied des Bundestages und seit 1998 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie wurde 1942 in Frankfurt/Main geboren. Von 1993 bis 2005 war sie Stellvertretende SPD-Vorsitzende.
Wir sind die Generation, die das Verhältnis von Markt und Staat neu ordnen muss! Die mit der Finanzkrise überdeutlich gewordene maßlose Ungleichheit kann nicht mehr hingenommen werden. Extreme Ungleichgewichte bedrohen den sozialen Frieden. Durch die Finanzkrise drohen 400.000 Kinder pro Jahr zusätzlich zu sterben. 98 Prozent der Jugend in den Entwicklungsländern wächst in armen Verhältnissen auf.
Zu Recht fordern NGOs, Kommissionen und Ländergruppen die nötigen Veränderungen. Die globale Neuordnung kann aber nur gelingen, wenn dabei die moderne Entwicklungspolitik eine Schlüsselrolle hat. Wir blicken zurück auf ein nie da gewesenes Marktversagen bei Klima und Weltfinanzen. Die Exzesse des Kapitalmarktes, des Marktradikalismus haben die Welt zurückgeworfen und Generationen von Menschen astronomische Kosten aufgebürdet. Die bislang monomanisch einen „freien Markt“ einfordernden Ökonomen erleben wir in himmelschreiender (vorübergehender?) Sprachlosigkeit. Jetzt müssen wir Ökologie und Entwicklung, Sozialsysteme und globale Arbeitsbedingungen vom Gängelband der Finanzmärkte befreien. Eine politisch verantwortete Ökonomie muss an die Stelle der von der Ökonomie allzu lange beeindruckten Politik treten.
Der G-20-Gipfel fand richtige Maßnahmen: die Regulierung der globalen Finanzströme, die Bekämpfung global organisierter Steuerhinterziehung und die Bekräftigung der Millenniumsentwicklungsziele.
Den IWF reformieren
Aber auch solange wir Konferenzen machen, sterben Menschen. Darum war dieser Gipfel nur eine Etappe. Entscheidend bleibt, dass entwicklungspolitische Taten folgen. Ungenügend ist dabei jeder Ansatz, der 172 Länder einfach außen vor lässt. Die Lösung globaler Aufgaben muss im Rahmen der Vereinten Nationen gelingen. Wenn es jetzt alle wollen, kann der UNO die Rolle zufallen, die sie längst spielen sollte. Das ist der Ausgangspunkt der im Auftrag des Präsidenten der UN-Generalversammlung einberufenen Stiglitz-Kommission. Der Name des renommierten IWF-Kritikers und Nobelpreisträgers signalisiert, dass es nicht um ein „weiter so“ geht.
Ich verbinde mit meinem Engagement in dieser Gruppe die entwicklungspolitische Profilierung der Reformvorschläge. Wie sehen tragfähige globale Strukturen aus, wie lenken wir Investitionen in den ökologischen Umbau, wie sichern wir den sozialen globalen Ausgleich, welche Strukturen der Krisenprävention müssen wir schaffen? Einige mir wichtige Elemente will ich nennen. Ohne Verzug müssen wir armen Entwicklungsländern die Möglichkeit geben, antizyklische Konjunkturpakete zu schnüren. Ich bin dafür, dass wir Weltbank und IWF genau hier in die Pflicht nehmen und sie weiter entwicklungspolitisch reformieren. In der Expertensprache gesagt geht es um eine „New Credit Facility“, die Schlüsselinvestitionen und fiskalische Handlungsoptionen ermöglicht. Wir dürfen zehn Jahre nach dem Entschuldungsgipfel von Köln 1998 aber jetzt nicht die Basis für die nächste Schuldenkrise legen. Länder, die die notwendigen Reserven nicht besitzen, müssen wir davor bewahren, ihre gerade erreichte tragfähige Verschuldung zu gefährden. Zuschüsse statt Schulden sind notwendig.
Zu den Herausforderungen gehört die Reform von IWF und Weltbank. Es ist wahrlich Zeit für eine fairere Stimmrechtverteilung und eine Wahl ihrer Führungskräfte nach Qualifikation statt Herkunft. Auch Deutschland wird die Finanzkrise zu politischen Entscheidungen nutzen. Die internationale Verflechtung der Weltwirtschaft und der Aufstieg neuer Akteure verändern das globale Machtgefüge grundlegend. Doch die Global-Governance-Strukturen sind gleich geblieben. Deshalb brauchen wir einen Weltwirtschafts- und Sozialrat unter dem Dach der UN.
Der Rat soll helfen, effiziente und gerechte Lösungen in Fragen der „Global Economic Governance“ zu schaffen. Konkret heißt das etwa, dass der Rat in seiner Koordinierungsfunktion dafür sorgen müsste, dass die Regeln der Welthandelsorganisation auch die Sozialstandards der internationalen Arbeitsorganisation berücksichtigen und dass dem Freihandelsprinzip des Stärkeren nicht immer Vorrang gegeben wird.
Die Einrichtung eines solchen Rates braucht Zeit. Wir könnten deshalb zunächst ein Globales Panel für Wirtschafts- und Sozialfragen ins Leben rufen. Muster dafür sollte das Globale Panel für Klimawandel (IPCC) sein. Darin sollen der Austausch zwischen Politik und Wissenschaft verstärkt und die Kapazität der Internationalen Organisationen für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen gestärkt werden. Später einmal könnte das Panel dem neuen Weltwirtschafts- und Sozialrat beratend zur Seite stehen.
Unterschätzte Klimakrise
Wir laufen zudem Gefahr, dass unter dem Eindruck von Finanz- und humanitärer Krise die Klimakrise unterschätzt wird. Die Folgen dieses Marktversagens sind nicht gebannt. Klima und Entwicklung gehören unmittelbar zusammen. Manche plädieren dafür, die nötigen klimapolitischen Investitionen nicht als öffentliche Entwicklungsausgaben zu betrachten, sondern zusätzlich zu leisten. Ich halte diese „Anrechenbarkeitsdebatte“ aber für einen Nebenschauplatz. In der tiefer liegenden Frage besteht Einigkeit: Die Entwicklungspolitik entwickelt sich zur globalen Zukunftspolitik. Der Geberkreis hat sich verändert, neue Finanzierungsinstrumente kommen dazu, und angesichts der wachsenden Aufgaben wird mittelfristig das alte 0,7-Prozent-Ziel zukunftspolitisch ausgeweitet werden müssen.
Die Leistungen der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA) umfassen derzeit 120 Milliarden US-Dollar jährlich. Darin sind einige klimabezogene Aufgaben bereits enthalten. Wenn wir aber den gesamten öffentlichen Unterstützungsbedarf für eine nachhaltige globale Entwicklung kalkulieren, benötigten wir etwa das Dreifache der derzeitigen ODA-Leistungen.
Die Messlatte für den Erfolg der Stiglitz-Kommission liegt hoch: Sie soll die Vereinten Nationen in die Lage versetzen, die entwicklungspolitische Dimension der anstehenden Zukunftsfragen zu profilieren.