: Abgestaubt und ausgelegt
BUCHGUERILLA Zum Welttag des Buches hat die Hamburger Buchguerilla in einer Nacht-und-Nebel-Aktion fast 2.000 Bücher in den Szenevierteln der Stadt verteilt. Ihre Finder sollen sie lesen – und weitergeben. Denn die Bücher sollen reisen
VON ILKA KREUTZTRÄGER
Nachts um halbeins gehört das Schanzenviertel dem Feiervolk. Zwischen den Bänken und Stühlen, die bereits auf die Tische vor den Restaurants gehoben wurden, liegen leere Bierflaschen und zerknüllte Tabakbeutel. In der vergangenen Mittwochnacht aber ist etwas anders: Überall im Viertel verstreut liegen Bücher, es sind Hunderte. Die Sozialpädagogin Marie balanciert sechs davon vor sich her: „Die liegen hier überall rum“, freut sich die Mittfünfzigerin.
„Das wollte ich schon immer lesen“, sagt Marie und tippt mit einem Finger auf den „The da Vinci Code“ von Dan Brown. Sie blickt kurz auf die Bücher in ihrem Arm, von denen jedes in einer durchsichtigen Plastiktüte steckt, darauf ein Aufkleber mit einem Buch mit Armen und Beinen und dem Satz „Freiheit den Büchern!“
Marie darf die Bücher behalten. Die Hamburger Buchguerilla, eine im vergangenen November gegründete, siebenköpfige Gruppe, hat zum Welttag des Buches 1.900 Exemplare im Hamburger Univiertel, der Innenstadt, in Ottensen und im Schanzenviertel verteilt. Die Zorro-artig maskierten Aktivisten nennen es „freigelassen“.
Die Idee geht auf Mitgründerin Antje zurück, die im vergangenen Jahr direkt vor dem Briefkasten einer Frau namens Karin ein Buch zu Ende gelesen hatte. „Ich habe eine Nachricht reingeschrieben und es in ihren Briefkasten geworfen“, sagt die 29-Jährige.
Bald fand sie die Online-Tauschbörse www.bookcrossing.com, die auf der Idee basiert, Bücher an öffentlichen Orten zu deponieren und ihre weitere Reise durch die Stadt, das Land, die Welt zu verfolgen. Derzeit sind weltweit knapp 765.000 Mitglieder registriert, 5,5 Millionen Bücher reisen umher. In Deutschland wurden in den vergangenen 30 Tagen 7.205 Bücher freigelassen, nur in den USA sind es mehr.
Der Hamburger Buchguerilla reichte es aber nicht, ab und an ein Buch irgendwo hinzulegen. Sie wollte mit einer Nacht-und-Nebel-Aktion möglichst viel Staub aufwirbeln. 22.30 Uhr, Lagebesprechung in einer Winterhuder Küche: Die Buchguerilleros sitzen um einen Tisch herum über eine Straßenkarte gebeugt und besprechen letzte Details. Wer fährt in welchem der Busse? Wer muss noch mal aufs Klo? Ist genug Bier, Wasser und Schokolade da? „Auf geht‘s“, ruft die 31-jährige Kerstin und springt auf. „Stopp“, ruft der Kameramann des NDR. Die Küche ist randvoll mit Journalisten, das Szenario erinnert mehr an ein Spielfilmset als an die Besprechung einer Aktivistengruppe. Kerstin muss sich erneut hinsetzen. Jetzt passt die Szene, schnell werden die letzten Bücherkisten aus der Wohnung und aus dem Kellerraum geholt und in die Autos verladen. Per Kolonne geht es gleich los zur Uni, der ersten von vier Stationen der Nacht. Kerstin springt ein zweites Mal für die Kameras auf und ruft: „Rock `n` Roll“!
Tobias, einer der Mitgründer der Buchguerilla, hat sich einen blau-schwarzen Trekkingrucksack vor die Brust geschnallt und platziert Bücher auf Stromkästen und in Hauseingängen, klemmt sie unter Scheibenwischer. Die ganze Aktion habe vor allem viel Zeit gekostet, sagt er. Etwa drei Minuten dauere es, ein Buch zu registrieren, das Bekennerschreiben hineinzulegen, es in eine Tüte zu stecken und in einer Kiste zu verstauen. Da könne man sich ja ausrechnen, wie lange das Ganze bei 2.000 Büchern dauere.
Gespendet wurden die Bücher von Privatleuten und Schulen, etwa ein Drittel habe er gleich weiter ins Altpapier gegeben, sagt Tobias. „Wenn man ein Buch selbst nicht lesen würde, dann muss man es auch nicht freilassen“, sagt der 27-jährige Philosoph. Als sein Rucksack leer ist und er sich auf den Rückweg zum Auto macht, sind die ersten Bücher schon verschwunden. Am nächsten Tag wird kein Buch mehr da sein.
„Schon erstaunlich“, sagt die Ex-Unternehmensberaterin und Geografin Kerstin (31). „Jahrelang stehen die Bücher herum und niemand interessiert sich für sie, und kaum liegen sie auf der Straße, will sie jeder haben.“
Es bleibt abzuwarten, ob die Buchsammler von Mittwochnacht das Prinzip auch wirklich verstanden haben – und die befreiten Bücher nicht einfach wieder in ihre Regal stellen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist hoch: Nur etwa jedes siebte gefundene Buch werde gemeldet, sagt der Betreiber der deutschsprachigen Bookcrossing-Seite, Rudi Ferrari.
Auch Tobias konnte nicht widerstehen und hat einmal die eiserne Regel der Buchguerilla gebrochen: Eine besonders schöne Ausgabe der Buddenbrooks ist nicht auf der Straße, sondern in seinem Bücherregal gelandet. Heimlich, versteht sich.