: Angriff aufs Tabu
Deutschland diskutiert über Folter. Acht Argumente und acht Erwiderungen
von CHRISTIAN RATH
Ausgelöst durch den Daschner-Prozess hat eine neue Diskussion um die Anwendung von Folter-Methoden zur Rettung von Menschenleben begonnen. Gefordert wird ein Freispruch für den ehemaligen Polizei-Vize Wolfgang Daschner und teilweise sogar eine Freigabe von folterähnlichen Praktiken im Ausnahmefall. Hier die acht wichtigsten Argumente plus Erwiderungen:
1. Daschner hat die Gewaltanwendung gegen den Entführer Magnus Gäfgen nur angedroht, aber keine Gewalt angewandt.
Tatsächlich wurde gegen Gäfgen keine Folter angewandt, weil er den Fundort der Leiche des entführten Jungen vorher preisgab. Der Polizeivizepräsident hätte es aber nicht bei der Drohung belassen. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau (22. 2. 2003) antwortete er auf die Frage „Hätten Sie die Drohung auch wahr gemacht?“ eindeutig mit „Ja.“ So hatte Daschner bereits einen Polizisten, der die Folterung durchführen sollte, aus dem Urlaub zurückbeordert. Zudem war der Polizeiarzt anwesend, der den Vorgang überwachen sollte. Daschner wollte also nicht bluffen.
2. Daschner wollte kein Geständnis erpressen, sondern nur das Leben eines Kindes retten.
Das Argument rechtfertigt keine Folter. Die Gewaltanwendung zur Erzwingung von Aussagen ist bei der Strafverfolgung wie auch bei der Gefahrenabwehr ohne Ausnahme verboten. Im hessischen Polizeigesetz heißt es ausdrücklich: „Unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ist ausgeschlossen.“
Auch das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention oder das UN-Übereinkommen gegen Folter unterscheiden beim Folterverbot nicht nach dem Zweck der Gewaltanwendung. In der UN-Konvention heißt es ausdrücklich: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“
Folgen hat Daschners Intention allerdings für die ihm drohende Strafe. Bei der „Aussageerpressung“ im Strafverfahren drohen bis zu zehn Jahren Haft. Da es Daschner aber in erster Linie um die Rettung des Kindes ging, lautet die Anklage auf „Anleitung eines Untergebenen“ zur „Nötigung in einem besonders schweren Fall“. Hier beträgt die Höchststrafe nur fünf Jahre.
3. Daschner wollte lediglich „unmittelbaren Zwang“ anwenden, von Folter kann man hier nicht sprechen.
Das UNO-Übereinkommen gegen die Folter enthält folgende Definition: „Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ‚Folter‘ jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen.“ Unter diese Definition fällt auch das Vorgehen Daschners. Er wollte Gäfgen so lange Schmerzen zufügen, bis dieser den Aufenthaltsort des Kindes nennt. „Irgendwann hätte er nicht mehr geschwiegen. Innerhalb sehr kurzer Zeit“, so Daschner in der FR. Eine solche Wirkung ist nur bei Schmerzen denkbar, die nicht lange auszuhalten sind.
Daschners Plan kann man zwar auch als „unmittelbaren Zwang“ bezeichnen. Das ändert aber nichts an der rechtlichen Bewertung. Schließlich ist unmittelbarer Zwang zur Erzwingung einer Aussage ausdrücklich verboten (siehe oben) – und dies ist wiederum eine direkte Folge des Folterverbots.
4. Es ist unlogisch, dass man einen Geiselnehmer erschießen darf, um ein Menschenleben zu retten, während es verboten ist, einem Entführer zum gleichen Zweck Schmerzen zuzufügen.
Zunächst ist festzuhalten, dass die Gesetzeslage von der Polizei zu beachten ist, auch wenn sie ihr nicht gefällt. Es gibt drei Begründungen, für diese widersprüchlich erscheinende Rechtslage.
Zum einen wird die Folter als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen, die der höchste Wert unserer Verfassung ist und dort als „unantastbar“ bezeichnet wird. Folter ist deshalb auch zur Rettung von Menschenleben nicht möglich. Dagegen steht das Leben im Grundgesetz unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Der „finale Rettungsschuss“ durfte deshalb ins Polizeigesetz eingeführt werden.
Zum Zweiten ist beim Todesschuss die Situation eindeutig. Der Geiselnehmer hat die Pistole am Kopf der Geisel und droht zu schießen. Mit dem Rettungsschuss ist die Geisel unmittelbar gerettet. Dagegen geht es bei der Folter um Informationen, die man vom Gefolterten nur erhofft, aber nicht sicher erlangen kann. Wird der Falsche gefoltert, kann er die Information gar nicht liefern. Gerade Unschuldige würden daher besonders intensiv gefoltert.
Wichtig ist schließlich die völkerrechtliche Lage. Nach langen Anstrengungen ist es gelungen, die Folter weltweit in verschiedenen Abkommen zu ächten. Deutschland muss also schon aus seiner internationalen Verantwortung am strikten Folterverbot festhalten, sonst wäre dies eine Stärkung diktatorischer Regime weltweit. Verträge gegen polizeiliche Rettungsschüsse existieren nicht. Der Schusswaffeneinsatz wird auch lange nicht so häufig willkürlich missbraucht, weil es meist Zeugen gibt, während Folter in der Regel ohne Öffentlichkeit stattfindet.
5. Fälle wie der von Gäfgen sind die absolute Ausnahme.
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik gibt es im Jahr etwa 100 Fälle „erpresserischen Menschenraubs“. Es ist also nicht damit zu rechnen, dass die Polizei nur alle 50 Jahre einen Täter oder Mittäter zu fassen bekommt und das Entführungsopfer noch nicht gefunden wurde.
Ist die Folter zur Rettung von Leben erst einmal anerkannt, dann kommen auch andere Konstellationen in Betracht, etwa die Enttarnung von Hintermännern beim Drogenhandel.
Wenn es um besonders viele bedrohte Leben geht, etwa bei der Verhütung terroristischer Anschläge, dürfte bald wohl auch die Schwelle, ab der gefoltert werden darf, herabgesetzt werden.
In Israel war einige Jahre lang „moderater physischer Druck“ gegen so genannte „tickende Zeitbomben“ erlaubt, also gegen Menschen, die in die Planung von Attentaten eingeweiht sind. Faktisch wurde dies aber in vielen Fällen nur routinemäßig unterstellt. Wohl auch deshalb verbot das Oberste Gericht 1999 die Anwendung von Mitteln wie das Festbinden in unbequemer Lage zur Unterstützung von Verhören.
6. Daschner hat, um ein Menschenleben zu retten, seine Karriere aufs Spiel gesetzt. Deshalb sollte er nicht bestraft werden.
Die Intention Daschners hat selbstverständlich Verständnis verdient, ebenso sein Mut, das Vorgehen in einem Aktenvermerk festzuhalten. Das Gericht könnte deshalb eine Strafe am unteren Strafrahmen verhängen, der bei sechs Monaten Haft beginnt. Diese Strafe könnte zur Bewährung ausgesetzt werden, so dass Daschner weder ins Gefängnis müsste noch seinen Job und seine Pensionsansprüche verlieren würde. Wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass Daschner durch den Wirbel bereits genug gestraft ist, könnte es trotz Verurteilung sogar ganz von einer Strafe absehen (§ 60 Strafgesetzbuch).
Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass Daschner anerkennt, dass er aus Gewissensnot Gesetze gebrochen hat. Bisher versucht er jedoch zu belegen, dass sein Verhalten völlig legal, ja sogar rechtlich gefordert war. Das kann ein Gericht nicht akzeptieren.
7. Im Fall Daschner liegt ein übergesetzlicher Notstand vor.
Nach bisheriger Rechtsprechung ist diese Annahme nicht möglich. Da die Menschenwürde als unantastbar gilt, kann ihre Verletzung zur Rettung von Menschenleben von der Rechtsordnung nicht anerkannt werden.
Sollte sich diese Rechtsprechung ändern, dann dürfte jedenfalls kein rechtfertigender Notstand angenommen werden, denn dann wäre Folter im Einzelfall legal und ein Kollege, der dem folternden Polizisten in den Arm fällt, wäre plötzlich im Unrecht.
Allenfalls kommt ein entschuldigender Notstand in Betracht. Daschner hätte sich dann zwar rechtswidrig, aber schuldlos verhalten. Er würde dann weder verurteilt noch bestraft.
8. In Zeiten drohender terroristischer Angriffe mit Selbstmordattentätern können wir uns das Folterverbot ohnehin nicht mehr leisten.
So argumentierte man auch in den USA. Dort ist inzwischen die Überstellung von Verdächtigen zum Verhör in Folterstaaten üblich. Und auf Guantánamo wurden auch verschärfte Verhörtechniken ausdrücklich gebilligt.
Soweit ersichtlich, sind dadurch noch keine Anschläge verhindert worden. Gleichzeitig hat dieses Vorgehen (das auch den Rahmen für die Exzesse im irakischen Gefängnis Abu Ghraib bildete), die USA viel Sympathie und Solidarität in der Welt gekostet. Der Einsatz von Folter und folterähnlichen Methoden hat die USA also höchstwahrscheinlich nicht sicherer gemacht.