Die News-Guerilla kämpft weiter

Das unabhängige Nachrichtenportal „Indymedia“ berichtet seit fünf Jahren. Mit Erfolg: Erst revolutionierte es die Protestkultur, dann kam das FBI vorbei

VON FELIX LEE

Proteste gegen den ungerechten Freihandel, gegen Genfood und die Macht der Reichen – die gab es auch vor 1999. Und trotzdem gilt Seattle als Geburtsstunde der Globalisierungskritiker. Denn als sich an jenem regnerischen Dezemberabend die verantwortlichen Behörden der Presse stellten, um über die schweren Auseinandersetzungen während der WTO-Tagung vom Vormittag zu berichten, stritten die Einsatzleiter ab, dass Gummigeschosse und Tränengas eingesetzt wurden. Sie ahnten nicht, dass zur selben Zeit bereits Dutzende von Berichten, Bildern und Videoaufnahmen im weltweiten Datennetz das Gegenteil bewiesen. Erstmals hatten sich Medienaktivisten aus aller Welt zu einem zentralen Ereignis vernetzt mit dem Ziel, denen eine Stimme zu geben, die sonst im Rauch des Tränengasnebels unsichtbar bleiben. Das Volk von Seattle fand sein Sprachrohr: Indymedia. Heute feiert es seinen fünften Geburtstag.

Inzwischen gibt es 160 solcher „Independent Media Center“, die zusammen das größte linke Netzwerk der Welt bilden. Egal ob bei Protesten gegen die Apec in Chile, gegen einen Nazi-Aufmarsch im brandenburgischen Halbe oder Kundgebungen in London gegen die Falludscha-Offensive, laufend werden Berichte, Fotos und Videos ins Netz gestellt, die das Geschehen aus Sicht der Aktivisten schildern. Das Motto der selbst ernannten Journalisten lautet: „radikal, genau und engagiert die Wahrheit“ verbreiten.

Am Prinzip des Open-Publishings hat sich seit ihrer Gründung nur wenig geändert. Jeder kann Material an Indymedia schicken, der Beitrag wird veröffentlicht – was auch schon zu einigen Falschmeldungen führte. Prominentes Beispiel: Nach der Terrorattacke vom 11. September 2001 behauptete ein brasilianischer Student, die CNN-Bilder von jubelnden Palästinensern stammten aus dem Jahr 1991. Tatsächlich handelte es sich um aktuelle Aufnahmen.

Fälle wie diese sind aber selten – vorausgesetzt, der Leser weiß die Beiträge zu nutzen. Bei Indymedia können die Nutzer den Beitrag kommentieren – nicht nur, um ein persönliches Urteil abzuliefern, sondern um sie zu korrigieren. Spätestens nach dem fünften Kommentar ergibt sich ein objektiveres Bild vom Geschehen (siehe Kasten unten).

Auch in Europa setzte sich das Internetportal schnell durch. Bei den Protesten gegen die Tagung von IWF und Weltbank im September 2000 in Prag verloren die tschechischen Einsatzkräfte den Überblick, angesichts der vielen Indymedia-Reporter, die mit selbst laminierten Presseausweisen hinter der Polizeikette standen und munter mit ihren Digitalkameras knipsten.

Jubelrufe gab es schließlich, als im März 2001 den Castor-Gegnern auf dem Weg ins niedersächsische Wendland die erste deutschsprachige Indymedia-Ausgabe in die Hand gedrückt wurde – zunächst noch in Printformat. Es dauerte nur wenige Stunden, und das linke Internetportal aus Seattle war auch in Deutschland fester Bestandteil der Protestkultur. War es bei den Castor-Gegnern bis dahin üblich, die stündlichen Nachrichten vom regionalen Privatdudelsender abzuhören, um zu erfahren, wo der Zug aktuell zum Stehen gebracht wurde, genügte den Aktivisten von nun an ein kurzer Anruf per Handy zu Hause in der Polit-WG, wo der Mitbewohner den Protest auf dem Bildschirm mitverfolgte.

Inzwischen ist Indymedia als Informationsportal auch auf anderen Protestveranstaltungen nicht mehr wegzudenken. Rund 10.000 Nutzer klicken im Schnitt täglich auf die Indymedia-Seiten, zu Spitzenzeiten sind es mehrere hunderttausend. Aber auch die Protestkultur hat sich seitdem gewandelt: Galten bis dahin Digitalkameras, Camcorder und Handys mit Fotofunktion auf Demos aus Gründen der Konspirativität als verpönt, sind die Demonstranten technisch längst auf dem neuesten Stand und werfen sogar mal einen freundlichen Blick in die Linsen. Slogans wie „Kameramann, Arschloch“ sind kaum mehr zu hören.

Trotzdem sorgte Indymedia nicht nur für freundliche Schlagzeilen. Insbesondere im deutschsprachigen Portal häuften sich nach der anfänglichen Euphorie auch Beiträge mit rassistischen und antisemitischen Inhalten. Indymedia geriet zunehmend in Verruf. So beschlossen die rund 25 Kernaktivisten von Indymedia, die vor allem von Berlin und Hamburg aus das deutschsprachige Portal betreuen, der Flut von Störbeiträgen mit Zensur eine Grenze zu setzen – die aber transparent gemacht wird.

Die Lösung ist seitdem eine dreigeteilte Website: Auf der ersten Seite stehen Beiträge, die für gut befunden werden, auf der zweiten der ganze Rest, der politisch korrekt erscheint. Im „Müllarchiv“ finden sich die Beiträge, die dem linken Weltbild nicht entsprechen. Die können auf Wunsch per E-Mail zugeschickt werden, was aber nur selten genutzt wird.

Diese Art der Zensur hat sich bewährt. Zumindest ist die Kritik bei den sich meist als herrschaftsfrei bezeichnenden Nutzern spürbar zurückgegangen. Was bei anderen strömungsübergreifenden linken Projekten sonst das Ende bedeutet hätte, konnte geradezu meisterlich bewältigt werden. Indymedia ist inzwischen das zentrale Kommunikationsorgan der Bewegungsaktivisten.

Kein Wunder, dass es den Mächtigen ein Dorn im Auge ist. Der größte Schlag gegen Indymedia erfolgte beim G-8-Gipfel im Sommer 2001 in Genua. Nach den schweren Massenprotesten stürmten italienische Carabinieris in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Indymedia-Center und schlugen alles nieder, was nicht niet- und nagelfest war. Es gab zahlreiche Verletzte. Selbst diese Aktion wurde gefilmt.

Aktuell steht Indymedia im Fadenkreuz des FBI, weil es Bilder von Zivilfahndern veröffentlichte. Anfang Oktober beschlagnahmte das FBI im texanischen San Antonio einen Indymedia-Server. Zeitgleich kassierte die britische Polizei einen Großrechner in London. In mehr als 20 Ländern waren daraufhin die Internetseiten beeinträchtigt. Auf der deutschen Seite, deren Zentralserver ebenfalls in den USA vermutet wird, konnten die Bilder nicht mehr heruntergeladen werden. Doch binnen weniger Tage war alles wieder abrufbar – von einem Server irgendwo in der globalen Netzwelt.