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Archiv-Artikel

Roman einer Neuaneignung der Welt

SCHICKSAL Kathrin Schmidt erzählt vom Leben nach einer Hirnblutung

Mit ihrer Hauptfigur hat die Autorin viel gemein: vor allem ein geplatztes Aneurysma

VON MAJA RETTIG

Nichts gilt mehr, als Helene Wesendahl sich liegend wiederfindet. Einige Familienmitglieder erkennt sie nicht auf Anhieb. Niemand lacht über die Scherze, die sie zu machen meint. Metall steckt in ihrem halb kahlen Schädel, die rechte Körperseite ist gelähmt. Sie hatte eine Hirnblutung. Die Tragweite dieses Schicksalsschlags kann sie zunächst gar nicht ermessen. Krise, Schock, Schicksal empfinden nur die anderen. Neben der Körperkontrolle sind ihr auch Erinnerung und Sprache teilweise abhanden gekommen.

Und das einer Schriftstellerin. Die literarische Figur Helene Wesendahl hat nicht nur denselben Beruf wie ihre Autorin Kathrin Schmidt, sie teilt auch die meisten anderen Lebensdaten mit ihr – fünf Kinder, die Herkunft aus der DDR und vor allem das geplatzte Aneurysma. „Du stirbst nicht“ ist der Roman zu Kathrin Schmidts persönlicher Katastrophe von 2002, ein Nullpunktbuch, Roman einer Neuaneignung der Welt, der im Autobiografischen gründet, sich aber nicht darin erschöpft. Es ist auch nicht ihr erster seither, also kein Testballon im literarischen Feld: Er handelt von sprachlichen Verlusten, illustriert sie aber nicht unfreiwillig. Kathrin Schmidt kann sich ihrer literarischen Mittel wieder sicher sein.

Explizit zeigt sie das ganze Ausmaß der Versehrung: die Spuckefäden beim Lächeln; die Probleme, nicht allein aufs Klo zu können; den Bauplan der im Kopf formulierten Sätze beim Sprechen einstürzen zu sehen; die „Zwangspausen und Konsonantenverschlinger“. Bei Brille will einfach das r nicht kommen.

Noch betroffener aber macht eine andere Folge dieser massiven Einschränkung. Neben Angst und Scham und fundamentaler Verunsicherung erfährt Helene Wesendahl plötzlich ganz neue Gewissheiten. Wo das Denken, Sprechen und Erinnern unzuverlässig geworden ist, gilt allein die Gegenwart und das Gefühl. Sie erlebt, wie schnell Gefühle wechseln und wie deutlich sie im Körper verortet sind. Am Fühlen werden die zurückkehrenden Lebenskoordinaten überprüft. Zieht es im Bauch vor Liebe beim Anblick des Ehemannes – oder eben nicht? Die Versehrte ist in einem seltenen Zustand der Unmittelbarkeit, das Fühlen ist nicht umstellt vom Fühlensollen. Verstellen geht nicht, jede kleinste Freude zieht die Mundwinkel auseinander, um den Preis der Spuckefäden. Paradoxerweise ist der beschädigte Körper das zuverlässigste Navigationssystem durch die neblig gewordene Welt.

In dem Maße, wie Helene sich ihr Leben zurückerobert – das weiter Zurückliegende ist zuerst wieder da –, kommen auch die Verstrickungen zurück. Auch alter Schmerz kehrt wieder: Eine lang zurückliegende Ehekrise rührt die Därme auf wie damals.

Krise oder gar Trennung scheint auch kurz vor dem Tag X in der Luft gelegen zu haben. Es beschleicht sie die Angst, von der tadellosen Fürsorge ihres Mannes „zum Anziehen der blütenreinen Gewogenheitsweste genötigt zu werden“. Lange Zeit weiß sie aber nichts Genaues – hier liegen für Leser wie Hauptfigur Überraschungen bereit. Stark ist die Episode um die Liebe zur transsexuellen Viola, der die eigene Identität aus anderen Gründen fragwürdig geworden war; die Faszination der Doppelgeschlechtlichkeit vermittelt sich in ergreifenden Namen und Bildern. Dieser Strang hat nichts von dem manchmal zu Authentischen der Krankengeschichte, wo einige Details (die Gewichtsprobleme, der Ärger über die Krankenhauspsychologin) erwähnt sind, weil es so war, und nicht, weil sie eine erzählerische Funktion hätten.

Prinzipiell allerdings verankern sowohl der Hauptstrang wie auch die prekäre Liebesgeschichte den Roman fest im Werkgefüge von Kathrin Schmidt. Von Körper und Geschichte, Geschlecht und Identität handeln auch ihre anderen Romane – etwa ihr erster, „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“ (1998), oder ihr bester, „Koenigs Kinder“ (2002). Und ihre Gedichte tun das auch.

Hoch interessant ist sowieso, dass sich das Tasten in der unsicher gewordenen Sprache als eine lyrische Bewegung erweist. Weil die Wörter nicht mehr selbstverständlich an ihren Bedeutungen kleben, werden sie fremd und poetisch. Hochwasser? Sie versucht sich die Bedeutung über die Einzelelemente zu erschließen (hohes Wasser), bevor die Nachrichtenbilder sie dann klar machen. Und schon steht das Wort schön und fremd da, offen für allerlei Assoziationen. Gleichklänge lösen ganze Erinnerungsschübe aus, der Genitiv von „Gang“ („am Ende des Ganges“) holt die Indienreise zurück. Souverän gestaltet Kathrin Schmidt die sprachliche Versehrung mit den bildreichen, bildsicheren Mitteln der Lyrikerin.

Die anfangs kurzen, isolierten Momentaufnahmen werden zu längeren Erzählbögen. Von der Intensivstation, wo Helene Wesendahl aus dem künstlichen Koma erwacht, arbeitet sie sich in ihrem Heilungsprozess voran, nach der Schlaganfallstation kommt die Rehaklinik, auf den Rollstuhl folgt der Rollator, und irgendwann nach Monaten ist es so weit: Die Rückkehr nach Hause steht an, in die ordentlichen, angestammten Verhältnisse. Da schließt die Erinnerung auf bis direkt zu dem Moment, bevor die Lichter ausgehen, als die Welt sich in ihrem Blickfeld zerhackt und sie zur ihrem Mann sagt: „Ich sterbe“, und er antwortet: „Du stirbst nicht“, und er ganz knapp recht behält.

Kathrin Schmidt: „Du stirbst nicht“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 348 Seiten, 19,95 Euro