: Das Phantom der Wüstengesellschaft
Die Vorurteile, die vor 100 Jahren gegen Juden eingesetzt wurden, kehren wieder – diesmal gegen die muslimischen Einwanderer gewandt
In der Weltkriegshysterie und dem nationalem Chauvinismus vor einem Jahrhundert schrieb der damals populäre Soziologe Werner Sombart über die Juden –er kannte das Wort „Parallelgesellschaft“ noch nicht –, sie befänden sich in „einer innerlichen Gegensätzlichkeit zu der sie umgebenden Bevölkerung, im Sinne einer fast kastenmäßigen Abgeschlossenheit gegen die Wirtsvölker“; sie wollten „abgeschlossen leben“, „zusammengeschlossen und darum abgesondert“, mit „feindseligem Verhalten“ gegenüber der Umwelt. Die Juden treten aus der Starre und der Leere der Wüste hervor, als die „Macht kalter Rationalität, des nomadischen Wanderns und Anpaßbarkeit“. Zu jener Zeit teilten viele Gebildete Sombarts Ideen; die liberaleren Geister verwarfen sie. Heute kehren wir diesen Ideen mit Schaudern den Rücken – oder etwa nicht?
Zweifel kommen auf, wenn wir uns die derzeitige Debatte über die islamische Parallelgesellschaft in Europa zu Gemüte führen, und hier führend vielleicht die Gedanken über das Wüstenproblem aus der Feder des populären Niederländers Leon de Winter, eines Autors, den ich sonst selbst gerne lese. Zur Theo-van-Gogh-Debatte meint de Winter, „überall“ in der arabisch-islamischen Welt seien die Begriffe Demütigung, Ehre, Respekt, Rache gebräuchlich. In der rauen Wüstengesellschaft sei Apostasie, Abtrünnigkeit, die schlimmste Sünde. Dies gelte für alle „arabischen und islamischen Völker“ – also vom marokkanischen Bergdorf über Mali und Saudi-Arabien bis zu den indonesischen Fischern. Dies ist etwa so präzise, als würden wir vom gemeinsamen Charakter aller christlichen Nationen, von Chile über die Iren, Korsen und Basken, zu Schweden, Russland und bis zu den Philippinen sprechen. De Winters populär-ethnologische Verallgemeinerungen über den Orient, in dieser krassen Form, sind beileibe kein Einzelbeispiel, wenn man sich ansieht, was derzeit gesagt und geschrieben wird.
Andernorts befand de Winter, dass die raue Wüstengesellschaft dieser Völker ihr „Unvermögen“ erklärt, „die Welt abstrakt zu betrachten“ – eine besonders merkwürdige Feststellung, hat doch gerade die arabisch-islamische Welt den europäischen Christen Mathematik, Astronomie, Grammatik und Philosophie beigebracht. De Winters Vorstellungen der rauen Wüstengesellschaft, die zur rachsüchtigen Parallelgesellschaft in den feuchten Niederlanden führt, ist ein beredtes Beispiel für das Wiedererwachen orientalistischer Idiome und des Rassismus allgemein; nun nicht mehr nur in Randgruppen der Gesellschaft, sondern in ihrer gesellschaftlichen Mitte, dem Bildungsbürgertum. Denn als van Goghs Lehrmeister Pim Fortuyn von einem ethnisch holländischen Tierschützer ermordet wurde, hat ja auch niemand versucht, dieses Extremverhalten aus der holländischen Psyche oder aus dem Calvinismus zu erklären. Es tut offenbar auch nichts zur Sache, dass sich die muslimische Familie des Attentäters lange schon aufgrund seines Extremismus von ihm abgewandt hat. Sein Verhalten ist offenbar allemal kulturell typisch.
Wenig hören wir in der Debatte über die angebliche Parallelgesellschaft dagegen über die tatsächliche Ghettoisierung vieler Einwanderer durch Rassismus und Arbeitslosigkeit oder über die aktive Verhinderung von Integration: unhaltbare Zustände für Immigranten in den Schulen, Erniedrigungen auf den Ämtern; und man sollte sich anhören, was Immobilienmakler in Berlin und Hamburg beispielsweise zu sagen haben, wenn Türken und andere Muslime zu ihnen kommen und versuchen, in Eppendorf oder Zehlendorf Häuser und Wohnungen zu kaufen oder zu mieten.
Der globale Einfluss dieser Entwicklung ist unverkennbar. Ohne den 11. September, ohne die zweite Intifada, ohne die Politik von Bush und Scharon lässt sich all dies nicht erklären. Es lässt sich aber auch nicht erklären ohne seine rassistischen Wurzel in Europa. Werner Sombart und seine Gesinnungsgenossen sind wieder hoffähig und in unsere Mitte zurückgekehrt.
Y. MICHAL BODEMANN