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Archiv-Artikel

Die kurze Zeit der Utopie

Die Erinnerungen sind noch wach genug, um nicht in Mythologie umzuschlagen: Michael Trabitzschs Dokumentarfilm „Allende – Der letzte Tag“ berichtet von Salvador Allendes kurzer Regierungszeit und von deren abruptem Ende am 11. September 1973

VON BERT REBHANDL

„Man muss mich mit Kugeln durchlöchern, wenn man mich hindern will, die Volksregierung zu verteidigen“, hat Salvador Allende gesagt, als er bereits damit rechnen musste, dass seine Tage als Präsident von Chile gezählt waren. Am 11. September 1973 starb er im Präsidentenpalast von eigener Hand, während die Militärs Bombenangriffe auf das Gebäude fliegen ließen.

Die drei Jahre der Regierung Allende sind zu einer mythischen Periode der internationalen Linken geworden. Bis heute sprechen die Menschen euphorisch von der Unidad Popular. Es war, als könnte man mit den Fingerspitzen den Himmel berühren, sagt die Journalistin Faride Zeran in Michael Trabitzschs Dokumentarfilm „Allende – Der letzte Tag“. Das Interesse an diesem politischen Aufbruch, der durch einen von der amerikanischen CIA unterstützten Militärputsch abrupt beendet wurde, ist seither nicht erloschen. In Chile war die Ära Pinochet eine Zeit der Lähmung. Zahlreiche Intellektuelle gingen ins Exil, so auch der Filmemacher Patricio Guzmán, dessen „La Batalla de Chile“ („Die Schlacht von Chile“, 1973–1975) der verbindliche Dokumentarfilm zu diesem Thema ist. In diesem Jahr hat Guzmán eine persönlich gehaltene Erinnerung an Salvador Allende veröffentlicht.

Michael Trabitzsch erzählt in vielerlei Hinsicht die gleiche Geschichte, es gelingt ihm aber doch, eine eigene Perspektive zu entwickeln. Das liegt sowohl an seinen Gesprächspartnern, von denen einige bis zur letzten Minute an Allendes Seite waren, als auch an den Archivaufnahmen, die einen guten Eindruck vom Charisma des Politikers und von den Hoffnungen der Menschen geben. Trabitzsch spricht nicht nur mit Anhängern, sondern auch mit einem Gegner. Roberto Thieme, der damals für die rechte Terrorgruppe Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) tätig war, spricht kühl und leidenschaftslos davon, wie er versucht hat, dazu beizutragen, dass Chile nicht „die Seite wechselt“ – soll heißen, sich dem Sowjetblock anschließt, nach dem Vorbild Kubas. Der Kalte Krieg ist der geopolitische Hintergrund dafür, dass an einen autonomen („dritten“) Weg Chiles in den frühen Siebzigerjahren nicht zu denken war.

In einer der interessantesten Archivaufnahmen ist Allende zu sehen, wie er die Vereinten Nationen in New York besucht. Er schüttelt Kurt Waldheim die Hand, dem österreichischen UN-Generalsekretär. Dann hält er eine Rede, die allgemeinen Zuspruch findet. Sein Talent zur Integration konnte er im eigenen Land nicht ausreichend produktiv machen. Die Lager waren verhärtet, das Bürgertum ließ sich nicht auf die Seite der Arbeiter bringen. (Einen guten Eindruck von der Komplexität der damaligen Situation vermittelt der selten zu sehende Spielfilm „La expropiación“ [„Die Enteignung“] von Raúl Ruiz aus dem Jahr 1972, in dem die Landreform sich als schwieriger erweist als zuerst angenommen.) In den USA sorgte Nixon dafür, dass Chile „bluten“ musste – die US-amerikanischen Delegierten in sämtlichen internationalen Finanzinstitutionen waren angehalten, alle Kredite rigoros zu unterbinden.

Michael Trabitzsch, der in Berlin lebt und arbeitet, durchläuft in einer Kurzfassung das chilenische Experiment, konzentriert sich dann aber hauptsächlich auf dessen Ende. Zwei unmittelbare Überlebende des Militärputsches standen ihm für Gespräche zur Verfügung. Sie schildern minutiös, wie die drei Tage bis zum 11. September 1973 verliefen, wie der Präsident mit ungefähr 40 Getreuen im Palast festsaß und sie in letzter Minute aufforderte, das Gebäude zu verlassen, das zu diesem Zeitpunkt lichterloh brannte. Das gegenwärtige Chile kommt danach nur noch kurz in den Blick. Trabitzsch zeigt ein Land, in dem sich die Zivilgesellschaft nicht versteckt, in dem sorgfältig mit dem Wein umgegangen wird, in dem die Männer nach dem Essen „Bésame mucho“ singen. Das mag ein wenig sentimental wirken, hat aber kein falsches Pathos. Die Erinnerungen an ein Chile unter der Herrschaft des Volkes sind noch wach genug, um nicht in Mythologie umzuschlagen. Der Märtyrer Salvador Allende geht gerade durch das Stadium der Hagiografie. Seine politischen Verdienste differenziert zu würdigen wird die Aufgabe einer nächsten Generation werden.