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Archiv-Artikel

Huhn sucht Mensch

Existenzgründungen in der Landwirtschaft gelten als Anachronismus – dabei kann die Agrarkrise nur gelöst werden, wenn wieder mehr Menschen auf den Höfen arbeiten

Junge Leute finden überraschende Auswege aus der Sackgasse des „Wachsen oder Weichen“

Die rot-grüne Regierung hatte in ihrem kaum bekannt gewordenen „Aktionsprogramm bäuerliche Landwirtschaft“ eine „Existenzgründungsoffensive“ angekündigt. Das Programm fiel den Haushaltskürzungen zum Opfer. Existenzgründungen in der Landwirtschaft widersprechen wohl dem Strom der Zeit. Der große Teil der Agrarökonomen ist sich da einig: Wettbewerbsfähig ist ein Betrieb, der seinen Nachbarn schluckt. Neu anfangen in der Landwirtschaft gilt als Anachronismus, wenn man von dem kurzen Goldrausch in Ostdeutschland einmal absieht. Und allgemein gilt: Der sinkende Anteil der Landwirtschaft an den Beschäftigten ist ein Kriterium dafür, wie fortgeschritten eine Gesellschaft ist.

Doch mit diesem Fortschritt ist es nicht weit her. Das zeigen die Widersprüche, in die sich die Agrarreformen der EU seit 1992 verwickelten. Fit für den Weltmarkt soll die europäische Landwirtschaft werden. Liberalisierung der Agrarmärkte ist das Mittel. Das Resultat ist eine ungeahnte Ausdehnung der Bürokratie, chronische gesellschaftliche Konflikte, wachsende Finanztransfers an die Agrarindustrie und die Bauern. Und nicht zuletzt: Landwirtschaft bleibt eine geschlossene Veranstaltung. Bauer werden kann nur, wer einen Hof erbt. Er wächst, indem er das Land seiner aufgebenden Nachbarn pachtet. Denn kaufen können sich das Land nur wenige. Die Landwirtschaft rekrutiert sich aus dem immer gleichen, ständig kleiner werdenden Personal. Keine Spur von freiem Marktzugang. Und das nicht als Überrest ständischer Zeiten, sondern als modernes Produkt. Die Liberalisierung der Agrarmärkte bringt das Gegenteil ihrer eigenen Versprechungen hervor.

Nötig ist deshalb, was in keiner ökonomischen Modellannahme ernsthaft in Erwägung gezogen wird: In der Landwirtschaft werden wieder mehr Menschen gebraucht. Um nur zwei Gründe dafür zu nennen:

Nachdem sich die Versprechungen der industriellen Tierhaltung gründlich entlarvt haben, wurden endlich Stallentwicklungen gefördert, die „Tiergerechtigkeit“ anstreben. Dabei zeigte sich, dass die Herdengröße und das Verhältnis des Menschen zum Tier enge Grenzen setzen, die auch nicht durch die tierfreundlichste Technik aufgehoben werden können. Die Tiere brauchen Zuwendung. Ein Mensch kann deshalb nur eine begrenzte Zahl von Tieren versorgen. Die Hühnerhaltung in Deutschland ist dafür ein extremes Beispiel. In nur 1.326 Betrieben stehen 35 Millionen Hühner in Käfigen. Diese Bestandsgrößen von durchschnittlich fast 30.000 Hühnern pro Betrieb sind nicht durch neue Ställe allein auf ein menschliches Maß zu bringen. Ganz andere Strukturen mit mehr Menschen werden gebraucht. Nach einem Gutachten der hessischen Tierschutzbeauftragten sind mindestens 4.000 neue Betriebe notwendig.

Vielfalt in der Landschaft wird es nur geben, wenn viele Menschen mit unterschiedlichen Interessen das Land bestellen und ihre Ställe öffnen. Kühe auf der Weide, Hühner im Freiland und vielleicht sogar wieder die Sau im Wald – das ergibt eine Vielfalt, die dauerhafter ist als all die implantierten und schnell vergessenen Biotop-Moden von vorgestern. Was der Landschaft fehlt, sind nicht die Gehölze, sondern Menschen, die das Land nachhaltig bestellen. Wir sollten die Landschaft peuplieren – statt sie mit ökologischen Investitionsruinen zu möblieren.

Das Schöne an dieser Idee ist, dass es dafür Bedarf gibt. Das Angebot und die Nachfrage nach Höfen, die außerhalb der Erbfolge übertragen werden sollen, sind hoch, trotz der schlechten wirtschaftlichen Lage der Landwirtschaft. Das zeigen die Annoncen in Fachzeitschriften, die Erfahrungen verschiedener „Hofbörsen“, Befragungen an landwirtschaftlichen Hoch- und Fachschulen.

Viele Bauern wünschen sich nichts sehnlicher, als dass ihr Hof erhalten bleibt und von neuen Leuten fortgeführt wird. Hier gibt es ein breites Spektrum vom Großbetrieb bis zum Resthof. Neben der vollständigen Übergabe des Hofes wird auch nach Kooperationspartnern gesucht, die neue Betriebszweige aufbauen oder die Arbeitsentlastung versprechen. In Ostdeutschland steht ein Generationenumbruch bei den Wiedereinrichtern an. Sie haben Höfe wieder aufgebaut und wollen nicht, dass das Land von den LPG-Nachfolgebetrieben aufgepachtet wird.

Gleichzeitig suchen Absolventen der landwirtschaftlichen Fach- und Hochschulen sowie Angestellte in der Landwirtschaft eine Existenz als Selbstständige. Die Vorstellungen reichen von Hofgemeinschaften bis zum Familienbetrieb. Gewünscht wird oft der Einstieg auf einen Hof als Kooperationspartner, auch als Übergangsform zum selbstständigen Hof. Romantische Vorstellungen haben sie nur selten, dazu kennen sie die Landwirtschaft zu genau.

Die Regel bei Hofaufgaben ist heute, dass die Flächen an den Meistbietenden verpachtet werden. Da die Altersrente in der Landwirtschaft zu gering ist, sind die aufgebenden Familien auch dringend auf einen guten Pachtpreis angewiesen. Deshalb werden Höfe ohne Nachfolger auch dann aufgelöst, wenn sie mit neuen Leuten durchaus lebensfähig wären, und selbst dann, wenn die aufgebenden Bauernfamilien traurig sind über den Untergang ihres Lebenswerkes. Die Aufgabe von Höfen ist Kapitalvernichtung in großem Stil: Wirtschaftsgebäude stehen leer, durchgezüchtete Herden werden aufgelöst, teure Maschinen verramscht, Erfahrungen im Umgang mit Böden gehen unter.

Betriebe mit 30.000 Hühnern sind nicht allein durch neue Ställe auf ein menschliches Maß zu bringen

Heute neue Höfe zu gründen, ist nicht leicht. Doch es ist kein ökonomischer Anachronismus. In Südfrankreich gibt es breitere Erfahrungen mit der Neugründung von Höfen. Von französischen Kleinbauernverbänden wird sie aktiv unterstützt. In England hat die schwere Krise der letzten Jahre viele Farmer demoralisiert. Sie gaben die Höfe auf und verkauften. Zwei Drittel aller Farmen, die im Frühjahr 2003 verkauft wurden, sind durch Städter gekauft worden, oft auch, um mit der Landwirtschaft zu beginnen. Die Vor- und Nachteile werden recht nüchtern abgewogen: Die einen fürchten den Niedergang der traditionellen ländlichen Kultur, die anderen versprechen sich von neuen Leuten neue Initiativen und aus der Stadt stammende Qualifikationen.

Diese Diskussion gibt es bei uns nicht. Öffentlich unbemerkt suchen junge Leute nach Höfen, arrangieren sich mit Bauern, die keine Hofnachfolger haben, und finden überraschende Auswege aus der Sackgasse des „Wachsen oder Weichen“. Dieser Bedarf ist längst von Stiftungen, Vereinen, Sponsoren begriffen worden. Sie fördern Neugründungen in den unterschiedlichsten Formen.

Hat die Politik hier etwas zu tun? Das Wichtigste wäre, zu akzeptieren, dass Neugründungen nötig und möglich sind. Gebraucht werden keine neuen Subventionen, entgegen aller Gewohnheit in der Agrarpolitik. Existenzgründungen hätten eine größere Chance, wenn junge Bauern besser beraten und rechtliche und institutionelle Hindernisse beiseite geräumt werden. GÖTZ SCHMIDT